Eisglieder am Dackelrücken

Klick: Der Journalist Mackowiak ist zurück von einer Nordpolarmeer-Expedition. In der Urania hielt er einen Diavortrag

Am 11. September 2001 mußte der West-Berliner Mackowiak Wache schieben. Der Tag war nebelig, die Heimat weit. Über seiner Thermojacke schaukelte ein alter Wehrmachtskarabiner, gut geölt und durchgeladen. Daneben, immer griffbereit, Funkgerät und Signalpistole. Der Horizont war kaum zu sehen, die Luft roch nach Schnee. Mackowiak war etwas schwindelig. In der „Zillertal-Bar“ hatte er am vorigen Abend mit den Kameraden hart gezecht. Mackowiak blickte auf einen einsam herumstehenden Wegweiser: Berlin 4174 Kilometer. Da! Irgendetwas hatte sich doch da hinten bewegt. Mackowiak riß den Karabiner hoch, suchte den Haltepunkt. In der Ferne wankten schemenhafte Gestalten. Mackowiak entsicherte den Karabiner. Plötzlich schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Der verdammte Bommerlunder! Mackowiak blickte angestrengt nach vorn: Da! Zwei, nein, drei Männer mit Vollbärten liefen ihm entgegen . .  . Ach nee, na Gottseidank! Nur Kollegen . . . 23.Oktober 2001.

Diavortrag in der Urania. Bin wohl kurz eingenickt. Mackowiak, Journalist der Berliner Morgenpost, ist gerade zurück von einer Nordpolarmeer-Expedition mit dem deutschen Forschungsschiff „Polarstern“. Mackowiak in der Kleiderkammer des Alfred Wegener Institutes. Klick. Mackowiak im Trockendock. Klick. Mackowiak im Hafen von Tromsö. Klick. Mackowiak an Bord der „Polarstern“.

Klick. Ein amerikanischer Eisbrecher. Klick. Mackowiak auf einer Eisscholle, Mackowiak als Eisbären-Wache, Mackowiak am Pol. Klick. Klick. Klick. Nebenan, im Humboldt-Saal, rattert derweil ein Diavortrag über die Kanarischen Inseln seinem Höhepunkt entgegen. Mackowiak dagegen setzt nun einen Overhead- Projektor in Betrieb. Eine gelbe Linie zieht sich von Skandinavien aus durch die Barentssee bis über den 89. Breitengrad. Worum geht’s? Um die Erforschung des Dackelrückens. Bitte? Nein, des Gakkel-Rückens. Ein geologisch aktives Gebirge am Grunde des Polarmeers. Die zahlreichen Vulkanologen, Meteorologen, Biologen und Petrologen an Bord der „Polarstern“ hatten jedenfalls ihre Freude. Schließlich gab es ja nicht nur eine Sauna und ein Schwimmbad an Bord, sondern auch eine rustikal eingerichtete Kneipe. Das Leben in der Arktis ist hart. „Mit feuchtkalten Eisgliedern greifen die Polkappen nach Süden, von diesem Eiskirchhof der Natur gehen sie aus, die drei ärgsten Feinde des Lebens: Eis, Kälte, Winternacht. Warum fährt man in dieses Mythenland hinter den Nebelwänden? Um Tote zurückzuholen?“ Gute Frage. Die „feuchtkalten Eisglieder“ des Fritjof Nansen-Zitats hallen noch in meinem Kopf, als ich dem Ausgang zustrebe.

Im Urania-Foyer sitzen ein paar uralte Damen und rauchen Zigarren. Wer jetzt eine Gasetagenheizung besitzt, hat auf jeden Fall gut lachen. Draußen ist es nicht nur stockfinster, sondern auch nebelig und kalt. Auf einer Verkehrsinsel stapeln sich umgedrehte Plakatwände mit riesigen Menschenköpfen. Nur schwer erahnt man in der Ferne das grauweiß schimmernde KaDeWe, davor den dunklen Schlund des U-Bahnhofes Wittenbergplatz. Da! Irgendetwas hat sich bewegt. An der nächsten Ecke schwanken schemenhafte Gestalten. Ich blicke nach vorn. Gottseidank! Die Pommes-Bude hat noch auf. ANSGAR WARNER