Misafir ișçi no. 18

Die Gastarbeiterin Nummer 18: Vor 37 Jahren kam Filiz Yüreklik nach Berlin. Bei AEG Telefunken baute sie Radios und Fernseher zusammen. 1968 ging sie gemeinsam mit den Deutschen auf die Straße. Heute arbeitet sie wieder mit „ihren Frauen“ von damals – in einem türkischen Nachbarschaftstreff

„Vergangenheit zu erzählen ist ein bitterer Prozess“

von HEIKE KLEFFNER

Der Koffer war nicht schwer, mit dem sich Filiz Yüreklik am 10. November 1964 auf den Weg von Istanbul nach Berlin machte. Einen dunkelgrünen selbst genähten Wintermantel, einen schwarzen Rock, auch selbst genäht, ein Paar Stiefel und Lederhandschuhe hatte sie mitgenommen. Dazu die massive Stoffschere und den Fingerhut – Erinnerungsstücke an ihre Arbeit als Schneiderin, die sie als 15-Jährige begann.

Fünf Jahre lang war sie die einzige Türkin in einer griechischen Schneiderwerkstatt in Istanbul. Dann brach der Zypern-Konflikt aus. Als der griechische Meister die Koffer packte, ging Filiz Yüreklik zum Arbeitsamt. Dort warben deutsche Firmen gerade mit bunten Broschüren um junge Frauen und Männer. Filiz Yüreklik war 20, und die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, sei ihr nicht so schwer gefallen, erinnert sie sich heute.

Zwei Wochen dauerte es, bis der Pass beschafft und die ärztlichen Untersuchungen überstanden waren. Wenige Tage vor der Abfahrt fiel dann die Entscheidung für Berlin. Ein Angebot von AEG Telefunken – das schien seriös, schließlich genossen deren Haushaltsgeräte in der Türkei einen guten Ruf.

„Drei Tage und zwei Nächte dauerte die Zugfahrt nach Deutschland“, rechnet die „Gastarbeiterin Nummer 18“ nach. Unvergesslich auch der erste deutsche Kaffee in der Bahnhofsmission im Münchener Hauptbahnhof: „Eine schwache schwarze Brühe“, lacht die heute 57-Jährige. Von München fuhren nur noch acht Frauen weiter nach Hannover. Dort steigt Filiz Yüreklik zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Flugzeug. 40 Minuten dauert es bis zum Ziel: Berlin-Tempelhof.

Von da an gibt es keine Erwartungen mehr, sondern nur noch die Berliner Realität – und viele Enttäuschungen. Heute noch zieht Filiz Yüreklik die Schultern zusammen, wenn sie von dem Wohnheim in der Kreuzberger Stresemannstraße 30 berichtet, in dem sie während des ersten Jahres musste. Ein Zimmer, vier Frauen und zwei Doppelstockbetten. Drei Kochbretter, zwei Duschen und drei Toiletten für dreißig Frauen in einer Etage.

„Wir mussten morgens um vier Uhr aufstehen, um pünktlich zum Schichtbeginn um fünf Minuten vor sechs bei AEG in Moabit zu sein.“ Die Tage seien unendlich lang, dunkel und kalt gewesen, sagt Filiz Yüreklik. In den ersten zwei Monaten arbeitete sie neun Stunden am Tag und samstags, „um für die freie Woche zwischen Weihnachten und Neujahr vorzuarbeiten“.

Was sie am meisten vermisst hat? „Das Essen.“ Die Antwort kommt schnell und ohne Nachdenken. „Frühstück mit schwarzen und grünen Oliven, Schafskäse und Tee.“ Türkische Lebensmittelläden gab es damals in Berlin noch nicht. „Die Eltern haben uns dann Päckchen mit Essen geschickt.“ Viele Mitbewohnerinnen seien krank geworden, erinnert sich die zierliche Frau. Von „den ewigen Kartoffeln mit Spiegeleiern“, dem Stress in der Firma und im Heim. „In der Woche war die Tür um 22 Uhr geschlossen, am Wochenende um Mitternacht.“

Was sie damals über Deutschland gelernt hat, zieht sich durch bis heute. „Für alles gibt es Regeln.“ Für Ausländer noch mehr als für Deutsche. „Die türkischen Gesetze, deutsche Gesetze und dann noch die speziellen Ausländergesetze, nach denen ich mich richten muss.“ Filiz Yüreklik lacht jetzt nicht mehr, ihre Stimme wird dunkel und bitter. „Wir sind wie Automaten behandelt worden, nicht wie Menschen.“ Bei einem Stundenlohn von 2,28 Mark und einem monatlichen Höchstverdienst von 370 Mark musste sie noch 30 Mark Miete für den Schlafplatz zahlen. „Wir hatten den Arbeitsvertrag unterschrieben und damit war unser Schicksal besiegelt.“ Dazu gehörte auch, dass die Kosten für die Reise nach Deutschland vom ersten Lohn abgezogen wurden.

Auf die Frage, ob sie denn Kontakte zu den deutschen Kolleginnen in der Feinmontageabteilung für Fernseher und Radios hatte, schüttelt Filiz Yüreklik so heftig den Kopf, dass die silbernen Ohrringe mit den roten Steinen klirren. „Überhaupt keinen.“ Das sei auch kein Wunder gewesen, meint sie, schließlich gab es keinerlei Sprachkurse. Ihr Deutsch, das sie heute fließend und mit wenigen Satzbaufehlern spricht, hat sie autodidaktisch gelernt.

Sie habe sich dann entschieden, „zu kämpfen“, sagt Filiz Yüreklik. „Arbeiten konnte ich ja schon.“ Eine andere Wahl sei nicht geblieben, „weil es niemanden gab, der uns geschützt hätte – am allerwenigsten unser Konsulat“.

Fotos aus dieser Zeit zeigen eine junge Frau in kniefreien Röcken und taillierten Jacken, die schwarzen Haare im modischen Pagenschnitt frisiert – mal lässig lächelnd, mit einer Zigarette in der Hand an Bord eines Spreedampfers, mal energisch mit einem Transparent und Freundinnen im Arm auf einer Demonstration – „gegen die Erhöhung der Passverlängerungsgebühr auf 69 Mark“.

Filiz Yüreklik wird Mitglied im „Türkischen Arbeiterverein“ , wechselt von AEG zuerst zu einem Pelzgeschäft am Ku’damm und dann 1966 zu Bosch, „wo die Arbeitsatmosphäre viel besser war“ und sie fünf Jahre lang blieb. Sie gründete mit Freunden eine Wohngemeinschaft, „nahm an den Protesten der 68er-Generation teil“, heiratet, bekommt eine Tochter und wird Betriebsrätin bei Krone in Zehlendorf.

Und ringt mit ihrer Identität in einem Land, „in dem sich die erste Generation der Immigranten immer wie Gastarbeiter fühlen wird“. Was sie während der 68er-Proteste genossen hatte – dass Deutsche und Türken gemeinsam auf die Straße gingen - veränderte sich plötzlich. Mit der Wirtschaftskrise Anfang der 70er-Jahre habe die Trennung in „Deutsche und Ausländer wieder zugenommen“, sagt sie bedauernd.

Als sie 1976 mit ihrer vierjährigen Tochter in die Türkei zurückging, dachte sie, es sei „für immer“. Doch drei Jahre später war sie wieder in Deutschland. „Inzwischen war mir auch in der Türkei vieles fremd geworden.“ Außerdem sei da die Sehnsucht nach den Freunden in Berlin gewesen. Über die nächsten zwei Jahrzehnte will Filiz Yüreklik jetzt nicht so ausführlich sprechen. „Vergangenheit zu erzählen ist ein bitterer Prozess.“

Heute hat Filiz Yüreklik wieder einen Einjahres-Arbeitsvertrag: beim Neuköllner Bezirksamt. Im Nachbarschaftstreff „Familiengarten“ arbeitet sie als Ansprechpartnerin für „ihre Frauen“ – die Immigrantinnen der ersten Generation.

Auf die Frage, wovon sie träumt, lacht Filiz Yüreklik doch noch einmal. „Ich habe schon viel erreicht“, sagt sie und deutet auf die Fotos aus ihrem Leben, die zurzeit im Kreuzberg Museum zu sehen sind. „Ich wollte immer, dass die Geschichte der Immigranten dokumentiert wird.“ Dann streicht sie über die kurzen Haare, die in Deutschland grau geworden sind, und greift nach der Brille,die an einer Kette hängt. „Das ist auch eine Erinnerung an AEG. Da hab ich mir die Augen verdorben.“