: Die verdrängte Leitkultur
Stefan Breuer erzählt systematisch und mit einer Fülle von anschaulichen Zitaten, wie rechtes und konservatives Denken entstand. Über dessen politische Wirkung erfahren die Leser jedoch nichts
von PAUL NOLTE
Wer heute „rechtes“ Denken oder politisches Handeln attackiert, zielt meistens auf den übersteigerten Glauben an den Kapitalismus. Die Kritik richtet sich auf die Verdrängung des Staates und jeder kollektiven Form von Verantwortung in einer rein individualistisch geprägten Gesellschaft. Kurz: den Neoliberalismus als konservative Leitideologie Europas und Nordamerikas.
Dabei gerät mehr und mehr in Vergessenheit, wie unwahrscheinlich die Verbindung des Konservatismus mit einer radikal-liberalen Ökonomie und Gesellschaftstheorie ist: Denn seit dem späten 18. Jahrhundert war eine der zentralen Prämissen des konservativen Weltbildes die tiefe Skepsis gegenüber Marktökonomie und sozialem Individualismus. Etwas komplizierter hat sich das Verhältnis zum modernen Staat gestaltet, der zunächst als fremde, patriarchale Herrschaftsordnungen zerstörende Macht galt, mit dem sich die Konservativen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch immer enger verbündeten.
Am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erreichte jener „alte“ Konservatismus in mehrfacher Hinsicht einen Höhepunkt seiner Wirksamkeit und Entfaltung: erstens durch politische Macht in Regierungen und Parlamenten (wie im preußisch-deutschen Kaiserreich); zweitens durch einen millionenfachen Massenanhang, der sich von industrieller und städtischer Moderne bedroht fühlte. Dazu kam, in komplizierter Überlagerung, eine dritte Dimension: nämlich eine Radikalisierung des rechten Denkens, die sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der neuen Wissenschaften der Jahrhundertwende vollzog: der Rassenhygiene, der Anthropologie oder der Psychologie. Daraus konnten dann einerseits technizistisch-„moderne“ Visionen hervorgehen wie im Umfeld mancher Strömungen der „Konservativen Revolution“ der Weimarer Republik, andererseits geradezu archaische Projektionen rassischer und völkischer Ordnung.
Damit sind wir längst mitten im neuen Buch des Hamburger Soziologen Stefan Breuer. Er gibt einen zugleich systematischen und außerordentlich quellennahen Überblick über das rechte Denken in Deutschland zwischen der Reichsgründung von 1871 und dem Ende des „Dritten Reiches“ 1945. Breuer gehört seit längerem zu der kleinen Schar von Wissenschaftlern, die sich intensiv mit der Ideengeschichte der politischen Rechten beschäftigen – sein Schwerpunkt: die radikalen Strömungen der Weimarer Republik, die er in zwei früheren Büchern bereits untersucht hat. Mit den „Ordnungen der Ungleichheit“ liege nun, so Breuer in unnötig pathetischer Selbststilisierung, „das Mittelstück des Triptychons vor, an dem ich seit gut zehn Jahren arbeite“.
Der Autor zählt innerhalb der Soziologie zu den immer seltener werdenden Repräsentanten eines an Max Weber geschulten historisch-komparativen Ansatzes. Deshalb bemüht er sich in der Einleitung um ein typologisches Tableau konservativen Denkens zwischen „Inklusion und Exklusion“ sowie „Progression und Regression“. Aber die typologische Sprache wird nie aufdringlich, und die Rekonstruktion einzelner Autoren und Positionen ist nie auf die bloße Illustration theoretischer Behauptungen beschränkt. Dank einer Fülle von Zitaten und quellennahen Analysen bleibt den Lesern die nähere Bekanntschaft mit einer Vorstellungswelt nicht erspart, die damals aufgeklärten Zeitgenossen abstrus erschien und doch viele faszinierte.
In zehn etwa gleichgewichtigen Kapiteln, die jeweils ein zentrales Thema des rechten Diskurses untersuchen, erschließt Breuer die „Ordnungen der Ungleichheit“: Er beginnt mit „Boden“ und „Blut“ und gelangt von hier über „Volk, Nation“ – wichtiges Bindeglied zwischen ethnisch-biologischem und politischem Denken – zu den Staatsvorstellungen, denen zwei Kapitel (über innere Ordnung und Imperialismus) gewidmet sind. Dem sozialen Denken gelten ebenfalls zwei Kapitel, überschrieben „Wirtschaft und Soziales“ sowie „Bevölkerung und Familie“. Das letzte Drittel des Buches behandelt Sichtweisen auf Kultur, Zivilisation und Religion, wobei Breuer mit dem Antisemitismus schließt und damit den Bogen zurück zu den Blut- und Rassevorstellungen schlägt.
Das alles kann man gut lesen, auch ohne ein Fachgelehrter zu sein, wenn man einmal von der gelegentlichen Vorliebe des Autors für eigene Begriffe mit altgriechischem Anklang absieht („die Vorstellungswelten des Panpsychismus, des psychophysischen Parallelismus, der Mikrokosmos-Makrokosmos-Spekulation“!). Breuer rekonstruiert vieles im Detail, was bereits bisher über Oswald Spengler oder Arthur Moeller van den Bruck, über Ernst Niekisch oder Ernst Jünger bekannt war, aber er setzt auch neue Akzente und überprüft eingeschliffene Urteile über rechte Denkelemente, wenn er etwa die Bedeutung der „Boden“-Ideologie geringer veranschlagt, als das zuweilen geschieht. Gelegentlich schießt er mit seiner Kritik an der Forschung anderer aber über das Ziel hinaus, indem er zum Beispiel die äußerst produktiv gewordene These Ernest Gellners, der Nationalismus bringe erst die Nation hervor, als „wenig hilfreich“ abtut.
Bei vielen Vorzügen lassen sich jedoch auch Einwände gegen die Methode und Darstellungsweise Breuers vorbringen, deretwegen man das Buch am Ende nur teilweise befriedigt aus der Hand legt. Drei teils miteinander verknüpfte Probleme seien stichwortartig benannt: Zum einen werden die vielfältigen Textsorten und Diskursebenen des rechten Denkens kaum unterschieden. Politische Pamphlete, die spekulative Philosophie älteren Typs, die neuen Formen des szientifischen Diskurses – die eine Textform scheint für Breuer so gut wie die andere, weswegen auch die Veränderung von Denkformen und „Diskursstilen“ der Rechten, zum Beispiel unter dem Druck einer neuen, zunehmend verwissenschaftlichten Kultur seit der Jahrhundertwende, nicht scharf genug herauspräpariert werden kann.
Zum anderen ist – vielleicht ein Preis für die Systematik – das Bild der 75 Jahre, die hier behandelt werden, häufig recht statisch. Breuer neigt sogar dazu, Jahrzehnte voneinander entfernte Zitate unmittelbar hintereinander zu stellen, ohne die historischen Veränderungen mit zu bedenken.
Das verweist bereits auf das dritte Problem: Das Buch konzentriert sich ganz radikal auf Ideenanalyse aus Texten; historische Kontexte werden oft noch nicht einmal als Hintergrundfolie eingeblendet. Man wünschte sich zumindest angedeutet, welche institutionellen Netzwerke hinter den diskutierten Autoren standen oder wie wirksam – oder unwirksam – die behandelten Texte im politischen Raum waren.
Trotz aller Systematik und Differenzierung hat Breuer deshalb am Ende Schwierigkeiten, verschiedene „Stufen“ des rechten Denkens zu unterscheiden:
Was ist konservative „Normalideologie“, wie sie zum Grundbestand aller modernen, auch demokratischen Gesellschaften gehört; wodurch werden Grenzen zu einer extremen Radikalisierung überschritten? Auch wenn der Autor mit Recht und im Trend der neueren Forschung die breite Herkunft des Nationalsozialismus aus den rechten Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts betont, muss es möglich sein, zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus zu unterscheiden. Bei Breuer jedoch erscheint alles Rechte irgendwie schwarz-braun. Schon deshalb darf man gespannt sein, wie er seine Analysen rechter Ideologien und konservativer Ideengeschichte für die Zeit nach 1945 fortsetzen wird.
Stefan Breuer: „Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945“.424 Seiten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, 98 DM (50,11 €)
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