Ossis dürfen zugucken

Ostberliner Intellektuelle fürchten nach der Entscheidung für eine Ampelkoalition eine weitere Spaltung der Stadt – und ein Anwachsen der PDS. Die Ampel wird für brüchig gehalten

von UWE RADA

Das System Westberlin ist am Ende, hieß es optimistisch nach dem Bruch der großen Koalition und dem Abtritt von Klaus Landowsky und Eberhard Diepgen. Seit Montagabend ist es wieder auferstanden. So jedenfalls sehen es viele Ostberliner Intellektuelle. „Nun wird die Stadt weiterhin von Westberlin aus regiert“, sagt der Kultursoziologe Dietrich Mühlberg. „Das wird den Osttrotz noch verstärken.“

Für die Einheit der Stadt sei die SPD-Entscheidung für die Ampel jedenfalls nicht zuträglich, meint Mühlberg. Er glaube allerdings auch nicht an eine allzu lange Dauer der Koalition aus SPD, FDP und Grünen. „Es ist kaum möglich, eine sinnvolle Politik dauerhaft an der Stadt vorbeizumachen“, sagt er und nennt auch schon die möglichen Verlierer möglicher Neuwahlen nach einem Bruch der Ampel: „Das werden die Grünen sein.“

Mit dieser Haltung steht Mühlberg nicht alleine. Auch der Verleger Christoph Links sieht in der Ampel ein falsches Signal für das Zusammenwachsen der Stadt: „Wenn man am mehrheitlichen Willen der Ostberliner so deutlich vorbeigeht, muss man sich nicht wundern, wenn sie beim nächsten Mal noch trotziger wählen“, sagt Links, der nach dem Fall der Mauer den ersten unabhängigen Verlag in der DDR gegründet hat.

Einen ganz anderen Aspekt wirft der Soziologe Wolfgang Engler in die Debatte. „Wenn man hört, dass man die Antikriegshaltung der PDS der Bundesrepublik nicht zumuten kann“, meint der Soziologe, der in seinem letzten Buch die Seelenlage der Ostdeutschen erkundet hat, „dann glaubt man ja, man spinnt.“ Die Entscheidung für die Ampel führe darüber hinaus dazu, dass sich das Ost-West-Gefälle auch im Regierungshandeln verstärken werde. „Da sind Bruchlinien vorgezeichnet, kulturell und politisch, die einer Spaltung der Stadt sehr nahe kommen“, fürchtet Engler.

Die von der Landes-SPD mittlerweile eingeräumte Einflussnahme von Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen Rot-Rot beschäftigt auch die Schriftstellerin Annett Gröschner. „Berlin ist eine andere Stadt als Bonn“, sagt Gröschner, „hier kann man nicht einfach so reinregieren.“ Das Wahlergebnis der PDS mit über 48 Prozent in Ostberlin sei ein „deutliches Zeichen gewesen, dass noch was fehlt zum Zusammenwachsen der Stadt“. Auch Gröschner fragt sich allerdings, wie lange die Ampel hält.

Doch nicht nur im Osten der Stadt macht man sich Sorgen um die innere Einheit. Auch der Stadtplaner Klaus Brake, der im vergangenen Jahr für die alte Koalition die Berlin-Studie für eine zukunftsfähige Stadt vorgelegt hat, kritisert die Entscheidung gegen Rot-Rot. „Die SPD ordnet die Politik ihrer Angst vor Wählerstimmen und -stimmungen unter, die sie gerufen hat und nicht beherrscht.“ Brakes Fazit: „Mit der Ampel siegen die Opportunisten. Armes Berlin.“

Dass bei einem vorzeitigen Aus für die Koalition Wowereit-Klotz-Rexrodt und aus erneuten Neuwahlen vor allem die PDS gestärkt hervorgeht, steht zumindest für die Ostberliner Intellektuellen außer Frage. „Wenn ich PDS-Stratege wäre, würde ich mir jetzt die Hände reiben“, sagt Wolfgang Engler. Dietrich Mühlberg glaubt, dass sich mit der Koalitionsentscheidung schon für die kommenden Bundestagswahlen die Chance der PDS auf die entscheidende Direktmandate deutlich erhöht hat.