„Segregation war besser“

Vom Bluff der „affirmative action“: Der Jazzmusiker Max Roach über schwarzen Nationalismus und Rassismus in den USA, über kollektive Kreativität und die Bewahrung der afroamerikanischen Kultur

„Wir sind kein Teildes amerikanischen Systems geworden.Im Gegenteil.“

Interview CHRISTIAN BROECKING

Herr Roach, Sie gelten als politischer Künstler. Ihre „Freedom Suite“ von 1960 war ein richtungsweisendes Statement im Jazz, Ihr Eintreten für den schwarzen Nationalismus hat Ihnen damals aber auch den Vorwurf des „umgekehrten Rassismus“ eingebracht. Wie stehen Sie heute dazu?

Ich bin ein Kind der Sklaverei, und Rassismus ist für mich ein sehr schmerzhaftes Thema. Bevor ich irgendetwas bin in dieser Welt, verstehe ich mich als Mensch. Und ich will die Rechte haben, die einem Menschen zustehen. Ich möchte nicht erleben, dass ich keine Wohnung mieten kann, weil ich die falsche Hautfarbe habe. Das ist aber nach wie vor die Realität, in New York und anderswo. Rassismus existiert im heutigen Amerika, und ich muss hinzufügen: Heute ist es schlimmer als in den 20er- und 30er-Jahren. Zu Zeiten der Segregation ging es uns besser.

Was soll da besser gewesen sein?

Segregation bedeutete, dass wir selbständig waren. Wir hatten unsere eigenen Schulen, Theater und Läden. Wir hatten unsere eigenen Wissenschaftler, wir studierten unsere Geschichte, lasen unsere Gedichte und Prosa. Und unsere Musik, die man in der ganzen Welt hört – Bessie Smith, Louis Armstrong, Charlie Parker –, sie ist unter den Bedingungen der Segregation entstanden. Mit der Integration wurde dieser Kultur die Basis entzogen, und seitdem haben wir keinen W. E.  B. DuBois mehr erlebt. Sie schickten uns in weiße Schulen, die schwarzen Lehrer wurden arbeitslos, denn alle Jobs gingen an die Weißen. Heute finden wir in den Büchereien kaum Bücher über Black Culture, das ist die Situation.

Schwarze kritisieren mich gerne für das, was ich jetzt sage, weil sie denken, es hätte sich doch dieses und jenes getan. Aber ich bin der Meinung, dass sich die Politik der so genannten „affirmative action“ als Bluff entpuppt hat. Wir sind kein Teil des amerikanischen Systems geworden, im Gegenteil! Wir haben keine schwarzen Schulen mehr und keine schwarzen Unternehmer, die in schwarzen Bezirken ihre Läden haben. Diese Bezirke ähneln heute nur noch riesigen Schutthalden. Es gibt keine Cotton Clubs, keine Harlems, keine Minton’s und keine Einrichtungen, wo wir uns unserer Kultur vergewissern können, wo wir unsere Künstler ausbilden können. Und nichts von der Musik und Kultur, die aus der Black Community kommt und in die ganze Welt verkauft wird, ist von Schwarzen kontrolliert, wirklich gar nichts.

Ich denke, dass wir zur Segregation zurückkehren sollten. Man braucht nicht aufs College gehen, um Unternehmer zu werden. Wir könnten uns im kulturellen Bereich gegenseitig unterstützen! So war es doch während der Segregation: Wir hatten W. C. Handy, der ein Büro besaß und seine eigene Musik veröffentlichte. Und mein Vater, er war Tischler. Als die Integration kam, fand er keinen Job, weil er nicht in die Gewerkschaft eintreten konnte.

Sehen Sie in Louis Farrakhan und seiner Nation of Islam tatsächlich Vertreter richtungsweisender Konzepte?

Farrakhan sieht die Black Community so, wie sie ist. Er sagt, dass wir ein eigenes Unternehmertum brauchen, unsere eigenen Colleges sowie Bibliotheken, in denen jeder willkommen sein sollte – so, wie es mir möglich ist, in die New York Library zu gehen und über Kandinsky oder Alban Berg zu lesen, sollen die Leute kommen und etwas über unsere Kultur lernen. Farrakhan predigt, dass wir dazu in der Lage sein sollten, von der Genialität in unseren Communities zu profitieren.

Und diese Genialität kann sich nur im Seperatismus entfalten?

In Amerika gibt es Millionen von Farbigen, die gewaltsam psychisch deformiert wurden. Wir haben keine Vergangenheit! Fragen Sie Thelonious Monk: „Monk, woher kommst du?“ Er sieht zwar aus wie ein Afrikaner, aber er wird antworten: „Ich komme aus North Carolina, USA.“ Und welche Sprache sprechen Sie? „Hm, ich spreche schlechtes Englisch.“ Das bezeichne ich als gewaltige, kollektive psychische Deformation: Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir können keine Fremdsprache sprechen. Wir sind ein neuer Appendix der menschlichen Rasse – nicht physisch, aber psychisch.

Das Einzige, was wir besitzen, ist die Kultur, die wir hervorgebracht haben. Wir durften keine Schulen und Konservatorien besuchen, also mussten wir unser eigenes Konservatorium gründen, das „Konservatorium der Straße“: Minton’s Playhouse, Bars, Straßenecken – das waren die Orte, wo wir gelernt haben. Ebenso in schwarzen Theatern, wo wir Duke Ellingtons Musik hörten und Aufnahmen mit nach Hause nahmen, um sie zu analysieren.

Sie sagen, dass sich die schwarze Musik durch kollektive Kreativität auszeichnet. Was meinen Sie damit?

Die musikalische Kreativität Europas ist „imperialistisch“, während Jazz „demokratisch“ ist. Als Charles Mingus und ich „Money Jungle“ mit Duke Ellington machten, da gab er uns nur einen Entwurf – und damit die Möglichkeit, etwas Eigenes zum Stück beizusteuern. Als Dizzy Gillespie mich anrief und sagte: „Max, ich möchte, dass du mit Charlie Parker, Bud Powell, Charlie Mingus und mir spielst“, wurde von uns allen erwartet, wir selbst zu sein und zum Thema Material hinzuzufügen. Das verstehe ich unter einem Kollektiv: Es steht nicht alles schon geschrieben und man kommt nicht nur zusammen, um bereits Fixiertes zu proben – wir kommen einfach rein und spielen!

Ihr Freund, der Poet und Kulturkritiker Amiri Baraka, meint, dass Wynton Marsalis sich um die Bewahrung der schwarzen Musikkultur bemüht. Geht es heute also um Bestandssicherung?

Es ist heute leicht, sich hinzusetzen und wie Louis Armstrong zu tun – man riskiert damit nichts. Aber wenn du wie ein Miles Davis oder ein Cecil Taylor oder ein Charlie Parker bist, erschließt du Neuland. Ich höre mir alles an, was wir haben, aber bewerte es anders als Baraka. HipHop sehe ich als Manifestation der soziopolitischen Situation einer Gruppe von jungen Leuten im heutigen Amerika. Sie drücken ihren Standpunkt aus bezüglich ihrer Unzufriedenheit und des Rassismus, der in diesem Land existiert. Denn diese jungen Leute sind mit Strukturen konfrontiert, die vielen von ihnen keine Perspektiven bieten.

Aber egal, was passiert: Der menschliche Verstand und das menschliche Wesen werden diesen Unsinn überdauern. Wir in Amerika werden es überleben – das manifestiert sich für mich in meinen Michael Jordans, meinen Michael Jacksons, meinen Miles Davis’, meinen Charlie Parkers, Langston Hughes, Amiri Barakas, Toni Morrisons. Die einzige Kultur, die in Amerika Sinn macht, ist die, die von schwarzen Leuten kommt.

Max Roach spielt heute beim JazzFest Berlin, www.berlinerfestspiele.de