Dynamik mit Widersprüchen

Globalisierungskritik II: Die Protestgruppen haben Erfolg. Und der ist gar nicht leicht zu bewältigen. Die Aktivisten stehen vor konzeptionellen und organisatorischen Problemen

Die „Anti-Globalisierungsbewegung“ ist ein Konstrukt der Medien – zumindestals Singular

Globalisierungskritische Gruppen sind im Aufwind. Doch Begeisterung allein reicht nicht aus, um politisch wirksam zu werden. Zumal zu schnelles, exponentielles Wachstum sehr gefährlich werden kann für eine Protestbewegung; es könnte sie sprengen und überfordern. Welche Herausforderungen erwarten also die Aktivisten?

Viele der jüngeren Proteste sind von Seattle inspiriert („Turn Prague into Seattle“). Aber sie fanden nicht die positive Resonanz ihres Vorbilds. Manche endeten in einem Desaster; dies galt etwa für den Protest am 1. Mai 2000 in London, wo eigentlich geringe Sachschäden zu einer massiven Ablehnung in der medialen Öffentlichkeit führten. Andere wurden von gewalttätigen Demonstranten und Polizisten geprägt (Göteborg, Prag und Genua), bereits im Vorfeld gestoppt (Davos 2000) oder beschränkten sich auf rein symbolische, für die Medien gestaltete Inszenierungen.

Die entscheidende Veränderung seit Seattle vollzog sich nicht in den Protestgruppen selbst, sondern in der Öffentlichkeit. Mit der gesteigerten Aufmerksamkeit verbindet sich eine Überschätzung der globalisierungskritischen Bewegungen. Diese Feststellung soll allerdings nicht deren Leistung schmälern, Fragen öffentlich zu thematisieren, die bislang nur Experten und politischen Kleingruppen vorbehalten waren. Zumal von den hochfliegenden Erwartungen ein beflügelnder Effekt ausgeht. Alte Bewegungskerne werden revitalisiert und gebündelt; junge Menschen strömen in die vorhandenen Gruppen. Damit erlangt die anfängliche Überschätzung der Globalisierungskritiker zunehmend den Realitätsgehalt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Zumal die Zahl der Politiker wächst, die einzelnen Forderungen der Globalisierungskritiker prinzipiell zustimmen – etwa der Entschuldung der ärmsten Länder, der Besteuerung spekulativer Finanztransaktionen, der Bekämpfung von Steuerflucht, der weltweiten Sicherung sozialer und ökologischer Standards. Die auch innerhalb der WTO-Konferenz in Seattle sichtbare Spaltung der Eliten bahnte sich bereits in der Diskussion um das Multinationale Abkommen über Investitionen (MAI) in den Jahren 1996/97 an, als beispielsweise die französische Regierung aus dem vorformulierten Konsens um die „Verfassung der vereinigten Weltwirtschaft“ ausbrach und, in Verbindung mit dem weltweiten Druck von Basisbewegungen, das Abkommen zu Fall brachte. Für Euphorie besteht dennoch wenig Grund. Es überwiegen immer noch die Politiker, die unbeirrt am neoliberalen Credo festhalten. Der anstehende Beitritt Chinas zur WTO bedeutet eine Stärkung ihres Lagers.

Zudem werden interne Herausforderungen die Bewegungen vor Zerreißproben stellen. Der Zusammenschluss von linksradikalen Antikapitalisten, moderaten Kapitalismuskritikern, Vertretern eines „dritten Weges“ und rein humanitär orientierten, eher unpolitischen Aktivisten erweist sich in der Phase des Aufschwungs und der reaktiven Mobilisierungen einer „Negativkoalition“ als tragfähig. Aber er zerbricht, sobald Richtungen und Prioritäten anzugeben sind. Die Kräfte, die eine radikale, im Grunde revolutionäre Umgestaltung der Weltwirtschaftsordnung fordern („smash capitalism“ oder, etwas bescheidener, „smash the WTO“), werden sich zwangsläufig von jenen scheiden, welche die bestehende Ordnung im Prinzip anerkennen und lediglich bestimmte Folgeprobleme zu lindern suchen. Der anstehende Klärungsprozess kann durch Formelkompromisse hinausgezögert, aber letztlich nicht vermieden werden. Die im Ansatz bereits erkennbaren Denk- und Lernprozesse mancher Regierungen (siehe „Offener Brief an die Globalisierungsgegner“ des belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt vom September 2001), die überwiegend symbolischen, an wenigen Punkten aber auch materiellen Zugeständnisse an die Kritiker werden dazu beitragen, die weitgehend latenten Widersprüche zwischen und in den Protestgruppen bloßzulegen.

Zunehmend werden die globalisierungskritischen Gruppen auch mit Organisationsfragen konfrontiert. „Vielfalt statt Einfalt“ und „so wenig Organisation wie möglich“ klingt sympathisch, aber kann auch bedeuten, dass sich eine „Tyrannei der Strukturlosigkeit“ (Jo Freeman) und informelle, schwer kontrollierbare Hierarchien durchsetzen. Die Globalisierungskritiker haben kein organisierendes Zentrum. Eine derartige Rolle wird in Deutschland fälschlich Attac zugesprochen. Die Beschreibung als Netzwerk ist insofern zutreffend, als nirgends eine Art Zentralkomitee und allseits anerkannte Programme und Zuständigkeiten bestehen. Zugleich ist diese Selbstbeschreibung unzutreffend, weil sie tragfähige Verbindungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten des Netzwerks suggeriert, das als Bewegung eine funktionale Einheit bilden könnte.

Die „Anti-Globalisierungsbewegung“ ist – zumindest als Singular – weitgehend ein Konstrukt der Medien. Fixiert auf Eindeutigkeit, auf greifbare Personen und Institutionen, neigen die Medien dazu, der Vielfalt und Unüberschaubarkeit globalisierungskritischer Strömungen eine sichtbare Gestalt zu verleihen – ein Effekt, von dem Attac enorm profitiert hat. Insbesondere in der Bundesrepublik ist Attac als eine Art Zentrale der Globalisierungskritiker dargestellt worden und hat sich, trotz erklärter Vorbehalte, zunehmend auf diese Rolle eingelassen, obgleich derzeit so gut wie alles an Attac im Fluss ist. Andere Netzwerke, beispielsweise die seit 1977 existierende Bundeskonferenz entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (Buko), fügen sich weniger den medialen Erwartungen. Obgleich ähnliche Themen aufgreifend und mit hoher Sachkompetenz ausgestattet, blieb beispielsweise der 23. Buko-Kongress im Oktober 2000 in Berlin (Motto: „WTO und soziale Bewegung im globalen Kapitalismus“) eine interne Angelegenheit.

Wie geht es weiter? Sowohl Eindeutigkeit wie auch Uneindeutigkeit, das Aushalten von Spannungen, können eine angemessene Reaktion bilden – je nach Situation. Spätestens seit Göteborg und Genua wird die Stellungnahme zur Gewaltfrage für jene Gruppen unabweisbar, die um öffentliche Zustimmung ringen. Dazu gehört auch Attac. In demokratischen Gesellschaften, kann allein ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit die Antwort sein. Dieses schließt allerdings zivilen Ungehorsam nicht aus.

„Vielfalt statt Einheit“ – dieses Organisationsprinzip kann zu unkontrollierbaren Hierarchien führen

Andere Herausforderungen dagegen verlangen Antworten jenseits eines prinzipiellen Entweder-Oder. Je nach Lage können Bewegungen durchaus zwischen Radikalismus und Kompromissbereitschaft pendeln, auf quantitative oder qualitative Mobilisierung setzen. Angebote der etablierten Politik sind weder prinzipiell als „Kooptationsfalle“ abzulehnen, noch sollte der Erfolg einer Bewegung daran gemessen werden, ob ihre Vertreter an den Konferenztischen sitzen dürfen. Die Kunst wird darin bestehen, prekäre Balancen zu wahren.

DIETER RUCHT