Keine Zeit für Entzifferung

Fotos durch Grafikprogramme jagen, bis sich alles zu einem nie gesehenen Bild zusammenfügt, und dazu Geschichten vom Alltag erzählen: Das „Berliner“-Magazin versuchte sich an einer neuen visuellen Sprache über das Leben in der Stadt. Ein Epilog

VON MATTHIAS ECHTERHAGEN

Brigitte Speich, Markus Wohlhüter und Tom Timmerhoff sind um eine große Erfahrung reicher. Zusammen mit anderen haben sie ein Magazin quasi aus dem Nichts auf die Beine gestellt. Die vierte Ausgabe konnte jedoch nicht mehr fertiggestellt werden. Zum Drucken reichte das Geld nicht mehr.

Nun sitzen sie da, an einem Herbstvormittag in einem Kreuzberger Café, und schauen zurück, ein wenig enttäuscht, aber auch stolz, und in kurzen Momenten noch immer enthusiastisch: Da sei etwas entstanden, sagen sie einhellig, das ging durch eine Kette von Händen und Köpfen, das wurde durchdiskutiert, nächtelang, wieder verworfen, überarbeitet, und am Ende waren trotzdem alle vom Ergebnis überrascht. Kaum zu kontrollieren sei das gewesen, ein offener Prozess: „Viele Leute kamen zu uns mit Vorschlägen, Fotografen mit ihren Mappen, sogar Studenten, die ein Praktikum machen wollten. Irgendwann mussten wir gucken, dass uns nicht die Bude eingerannt wird“ sagt Markus.

Eigentlich sollte es die Diplomarbeit ihres Grafik-Design-Studiums werden. Brigitte hatte auch schon einen Namen für das Magazin, das in einer anderen Sprache von Berlin erzählen sollte: „Berliner“. Dann kamen nach und nach Leute aus dem Umfeld hinzu: Markus, auch Grafik-Designer und wie Brigitte aus dem schweizerischen Luzern, über viele komplizierte Ecken dann auch Tom, ein studierter Wirtschaftler aus dem Ruhrgebiet, und andere in Berlin lebende, mit Medien beschäftigte Menschen.

Die erste Nummer des Berliner erschien im Januar 2000. Tom erzählt, wie sie Rucksäcke mit Exemplaren vollgepackt haben, um sie zu Mode- und Buchläden zu fahren. Am Ende hatten sie mehr als zwanzig feste Verkaufsstellen zusammen und über Freunde sogar ein paar in Hong Kong und Paris. Prognosen über Einkünfte seien aber zu diesem frühen Zeitpunkt kaum möglich gewesen, sagt er. Im Anzeigengeschäft gebe es immer Unwägbarkeiten. Vielleicht hätte es noch ein halbes Jahr gedauert, dann wäre der Rücklauf von potentiellen Anzeigenkunden und Medienagenturen gekommen. Dann hätte sich der Berliner selbst tragen können.

Zu einem Bild, das jenseits der visuellen Hauptströme liegt, sollte Berlin in ihrem Magazin werden. Vom Pressevertrieb gab es Bedenken gegen ein ungewöhnliches ästhetisches Konzept, das sich auch in der gesamten Aufmachung niederschlug. Der Berliner sei nicht eingängig genug, wurde kritisiert. Der Inhalt erschließe sich nicht in einem Blick. Ein klar definiertes Zielpublikum fehle. Von einer stringenten Geschäftsidee sei nichts zu spüren, bemängelten Grossisten.

In der Redaktion des Berliner kümmerte sich anfangs niemand um solche Einwände aus betrieblich-kapitalistischer Sicht. Die Aufmachung blieb vieldeutig, wie von Anfang an. Im Editorial der letzten Nummer vermischte sich die Berlin-Euphorie der Hergezogenen allerdings schon mit sehr viel skeptischeren Tönen über die Überlebensfähigkeit des Magazins. „Entweder findet das Neue einen Platz als Zahnrad im großen Getriebe oder es landet auf dem Schrottplatz der Geschichte“, hieß es dort. Vielleicht hätten sie ja doch eine größere Werbeagentur ausfindig machen sollen. Dann gäbe es den Berliner vielleicht noch. Von dem Gedanken rücken die drei aber sogleich wieder ab. „Wir waren nicht die Kreativen, die sich für andere austoben dürfen“ sagt Brigitte. Für eine kurze Zeit hätten sie ihre eigene Sprache sprechen können. Das habe gezählt.

Das neue Bild wollte entziffert werden. Der Betrachterblick hatte sich einen Zugang selbst zu schaffen und musste sich durch hochkompliziert-verspielte Grafiken kämpfen. Die Texte führten da eher eine Randexistenz. Manche von ihnen flossen über die Seiten und wurden dabei unleserlich klein, oder sie schlängelten sich um die Bilder, als wollten sie unbedingt selbst welche werden. Ein Zeichenstrom, der, wo ihm ganze Stücke zu entreißen waren, von Berlin aus der Sicht der Grafiker erzählte.

Momentaufnahmen aus dem gleichförmigen Dahinfließen des städtischen Alltags waren diese Stücke; von Charlie, dem Loseverkäufer vom Alexanderplatz, von einer Band, die wie eine Familie ist, von Grafittisprayern, von einer Wagenburg, von einem Schattenzwiegespräch. Und nun, wo ihnen vorerst keine Geschichten mehr zu erzählen bleiben, wo sie sich wieder umgucken müssen nach neuen Aufgaben und Beschäftigungen, bleibt nicht viel, als noch einmal alles zu rekapitulieren. Ihre Sprache wollen sie weiterentwickeln, sagt Brigitte. Gerade in Berlin seien die Bilder langweilig und wiederkehrend, da sei noch viel zu machen. Außerdem seien sie über die Arbeit am Berliner Freunde geworden. Irgendwann würden sie wieder etwas zusammen machen, bestimmt.

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