Investieren in die Abschreckung

Das Sachleistungsprinzip: Waren statt Bargeld für Asylbewerber. Gewinner des Sachleistungsprinzips, egal in welcher Form, sind vor allem die privaten Betreiber von Flüchtlingsunterkünften, die Fresspaketfirmen und die Gutscheinkonzerne

NEUE SERIE Lebenswelten - Flüchtlinge in Deutschland. Heute: Das Sachleistungsprinzip. Flüchtlinge erhalten Essen und gebrauchte Kleidung. Sie bekommen Bett, Stuhl und Spind im Mehrpersonenzimmer in einem Sammellager, aber kein Bargeld. Die Serie will den Alltag von Flüchtlingen hierzulande beleuchten. Wie verändert das neue Zuwanderungsgesetz das Leben von Flüchtlingen?

von ANDREA KOTHEN

Flüchtlinge möglichst schäbig zu behandeln, damit sie in Deutschland nicht länger Schutz suchen, scheint die Maxime deutscher Flüchtlingspolitik zu sein. Eine besonders aufwendige Variante der Abschreckung ist es, zu verhindern, dass Flüchtlinge Geld im Portmonee haben. Anstelle von Bargeld, so schreibt es das Asylbewerberleistungsgesetz vor, sollen die Betroffenen das, was ihnen zusteht, als „Sachleistungen“ erhalten: Essen, Toilettenartikel, gebrauchte Kleidung, Bett, Stuhl und Spind im Mehrpersonenzimmer im Sammellager.

Die bundesdeutsche Praxis ist vielfältig und in ihren spezifischen Ausformungen bezeichnend für die Mentalität der jeweils Verantwortlichen. Bezüglich der „Grundleistungen“ für Ernährung und Körperpflege ist Sachsen-Anhalt das einzige Bundesland, das seinen Ermessensspielraum positiv nutzte und flächendeckend die Bargeldausgabe anordnete. Auch fast alle Kommunen Hessens zahlen weiter Bargeld, ebenso wie Hamburg, Bremen, Rheinland-Pfalz und teilweise andere Kommunen, die keinem einschränkenden Landeserlass unterliegen.

An vielen Orten aber, zum Beispiel in Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Schleswig-Holstein, gelten eigens gedruckte Gutscheine als passabler Ersatz für Bares. Das Land Niedersachsen besteht sogar darauf, flächendeckend Gutscheine auszugeben. Dem entsprechenden Erlass folgte zunächst nur ein Teil der Kommunen. Insbesondere die Großstädte lehnten es – nicht zuletzt auch aufgrund des damit verbundenen finanziellen und personellen Mehraufwands – ab, sich am Sachleistungssystem zu beteiligen. Die Landesregierung ließ die vorgebrachten Argumente jedoch allesamt nicht gelten und wies die widerständigen Kommunen zuletzt formell an, Flüchtlingen nur noch Gutscheine statt Geldleistungen auszuhändigen. Man nehme dabei, so das Innenministerium zur Begründung, „bewusst einen höheren Verwaltungsaufwand und damit Mehrkosten . . . in Kauf“.

Man weiß natürlich um die einschränkenden, entmündigenden und demütigenden Wirkungen von Gutscheinen: Die Beschränkung auf wenige Geschäfte und Artikel, die weiten Wege zu den wenigen Einlösegeschäften, die stigmatisierende Wirkung an den Kassen, der eklatante Mangel an Bargeld für eine Busfahrt, für den Rechtsanwalt, für den Schulausflug. Aber schließlich, so wird je nachdem getröstet beziehungsweise gedroht, könne es für die Betroffenen auch noch schlimmer kommen.

In der Tat: Die Stadt Osnabrück führte so genannte Chipkarten ein, gültig für ganze zwölf Geschäfte im Stadtgebiet, wo sich die Flüchtlinge an speziellen Kassen anstellen müssen. Manche Kommunen, wie Ahaus, unterhalten gar direkt am Flüchtlingswohnheim ihren speziellen Flüchtlingseinkaufsshop mit ebenso speziellem Angebot und speziellen Preisen, in dem der Einkaufsbetrag, vom virtuellen Budget der Flüchtlinge (zum Teil mit monatlichem Verfallsdatum) per Computer abgebucht wird. Wer im hauseigenen Sondergeschäft seinen Bedarf nicht decken kann, hat Pech gehabt. Der Zutritt zu normalen Geschäften bleibt den Flüchtlingen mangels Bargeld gänzlich verwehrt. So wird die bestehende Sammellager-Gettoisierung von Flüchtlingen logisch weitergedacht. Nachdem es in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zu massiven Protesten gegen die wohnheimeigenen Magazinläden gekommen war, wurden die Leistungen teilweise auf Kundenkontoverfahren in einem einzigen öffentlichen Supermarkt umgestellt. Auch wurde vielerorts wieder auf Gutscheine zurückgegriffen. In Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, dem Saarland und in einigen Städten Nordrhein-Westfalens geht man noch konsequenter an das Projekt Sachleistungen heran und händigt Flüchtlingen Lebensmittel- und Hygienepakete aus. Bei der Abholung entdeckt der Flüchtling, was er in den nächsten drei Tagen essen soll: ein halbes angetautes Hähnchen, zwei Apfelsinen, 1 kg Mehl, 1 Paket Toastbrot, 3 Eier, 1 Zwiebel, 2 Ecken Streichkäse, 1 Paprika, 2 nicht mehr ganz frische Tomaten, dafür eine Dose Schältomaten, eine Dose weiße Bohnen, eine Tafel Bitterschokolade, ein dem Flüchtling unbekanntes Pulver. Wer damit unzufrieden ist, der muss sich von der ehemaligen bayrischen Sozialministerin Stamm korrigieren lassen. Sie fand die behördlich verordnete Kost vertretbar und angemessen, ließ die Kalorien ihrer Pakete nachzählen und verkündete, dass jeder „Leistungsempfänger die nach den ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen erforderliche Nahrungsmenge in einer sachgerechten Zusammensetzung erhält“. Die beständig wiederholten Vorwürfe von Flüchtlingen und Initiativen: fehlende oder abgelaufene Haltbarkeitsdaten, minderwertige Nahrungsmittel, eine Auswahl, die nicht den Bedürfnissen der Flüchtlinge entspricht, und ein Inhalt, der insgesamt bei weitem nicht den Wert des Betrags hat, der den Flüchtlingen zusteht. In zahlreichen Städten erhebt sich dagegen immer wieder ein heftiger Protest der Betroffenen – mit kurios anmutendem Erfolg: Jetzt dürfen Flüchtlinge in Sachsen aus einem eigens entwickelten Katalog auswählen, welche Zusammensetzung ihr Paket haben soll.

Auch im Main-Tauber-Kreis hielt sich hartnäckiger Protest: Dort entstand zunächst ein Tauschhandel, schließlich traten die Flüchtlinge in den Hungerstreik. Danach hat das Landratsamt von der Paketausgabe Abstand genommen. Am normalen Leben teilnehmen dürfen die Flüchtlinge deshalb aber noch lange nicht. Die gesetzliche Aufgabe „Sachleistungsprinzip“ beflügelte scheinbar die Fantasie der Behörde. Nun schickt der Main-Tauber-Kreis zweimal wöchentlich einen Lkw zu den Flüchtlingsheimen. Nach einem ominösen Punktesystem kaufen Flüchtlinge dort ihre Waren im Lkw-Shop. Für seinen erfinderischen mobilen Flüchtlingseinkaufsshop leistet sich der Kreis einen Lkw samt Fahrer, der 600 Liter Diesel wöchentlich verfährt. Gewinner des Sachleistungsprinzips, egal in welcher Form, sind vor allem die privaten Betreiber von Flüchtlingsunterkünften, Fresspaketfirmen wie Weigl oder RoRi und Gutscheinkonzerne wie Sodexho oder Accor. Sie müssen sich kaum für das zweifelhafte Geschäft rechtfertigen.

Im Gegenteil: Ihr legitimes Anliegen ist der Profit. Überhöhte Preise für bereitgestellte Lebensmittel sind da selbstverständlich inbegriffen. So erklärt beispielsweise der Sozialdezernent Graw im nordrhein-westfälischen Langenfeld die Preispolitik der Paketfirma: „Es ist klar, dass die Sachen teurer als bei Aldi sind, schließlich werden sie in Thüringen gepackt, und das Brot wird in Köln gebacken.“ Der französische Accor-Konzern versucht seine Gutscheine gar mit humanitärem Anspruch zu versehen und erklärt dem unwissenden Kunden, die „Diskriminierung von Leistungsberechtigten“ werde durch Gutscheine „abgebaut“. Ganz unrecht haben die PR-Strategen von Accor damit nicht, wenn man in Rechnung stellt, dass die Paketversorgung die gesetzlich definierte Norm darstellt und die Ausgabe von Gutscheinen oder Geldleistungen vom Gesetzgeber als Ausnahmeregelung konzipiert ist. Man wird dem Konzern insofern zugestehen müssen, dass die Diskriminierung der Betroffenen noch gesteigert werden kann.

Einen Vergleich mit den Einkaufsgewohnheiten eines durchschnittlichen Verbrauchers scheut der Konzern aber dann doch. So blieb es dem Ministerialdirigenten Schmidt vom niedersächsischen Innenministerium vorbehalten, öffentlich die gewagte These zu verkünden, mit Gutscheinen lasse sich „einkaufen wie mit Eurocheques“. Der prompten Einladung niedersächsischer Umtauschinitiativen zum gemeinsamen GutscheinEinkaufsbummel mochte der Beamte dann aber doch nicht folgen. Der Quasimonopolist Sodexho hat sich bereits aller Skrupel entledigt und wirbt bei den britischen Lebensmittelhändlern ebenso offenherzig wie rufschädigend: „Dont miss this revenue-making opportunity. Vouchers will be the beneficiaries only method of buying essential living products. No change is given, but you will receive the full value of the voucher.“ (Versäumen Sie nicht diese lukrative Gelegenheit. Gutscheine werden für Flüchtlinge die einzige Möglichkeit sein, elementare Dinge zu kaufen. Sie geben kein Wechselgeld heraus, erhalten aber den vollen Gegenwert der Gutscheine.) Anders ausgedrückt: Prellen Sie wehrlose Flüchtlinge – es ist profitabel und ganz legal. Wer jetzt aber denkt, jeder Privatmensch könne sich straflos auf Kosten von Flüchtlingen bereichern, der hat das System noch nicht verstanden.

In Wolfsburg ließen sich im letzten Jahr rund 70 Flüchtlinge, um über Bargeld verfügen zu können, ihre Gutscheine von kommerziellen Gutscheinhändlern (nicht Sodexho, sondern privaten Geschäftemachern) abkaufen – unter Wert. Daraufhin wurden von der Staatsanwaltschaft Strafverfahren eingeleitet. Als „Betrogene“ gerierte sich ausgerechnet die Stadt Wolfsburg. Sie forderte (und erhielt) nach der Aufdeckung des Skandals „ihr“ Geld zurück – das heißt den Restbetrag, der den Flüchtlingen beim Abkauf vorenthalten wurde. Die Flüchtlinge gingen nicht nur leer aus, sondern wurden als „Betrüger“ entlarvt: Nach der Verurteilung der Gutscheinhändler erhielten die Flüchtlinge Bußgeldbescheide bis zu 500 Mark wegen „Beihilfe zum Betrug“.

Was lernen wir daraus? Von Gutscheinfirmen, Wohnheimbetreibern und Kommunen dürfen und sollen Flüchtlinge sich betrügen lassen. Erscheint es ihnen aber günstiger, sich von windigen privaten Geschäftemachern übers Ohr hauen zu lassen, betrügen sie ihre Betrüger und müssen Strafe zahlen.