Mehr als präzise Seitenhiebe

Spießerleben als Sackgasse: Peter Konwitschnys „Don Carlos“-Inszenierung an der Staatsoper  ■ Von Dagmar Penzlin

Das Idyll vom privaten Glück hat nach dem 11. September Hochkonjunktur. Das wissen auch die Macher der Werbebranche. Deshalb träufeln sie jetzt den Konsumenten verstärkt Spots nach dem Rama-Familie-Prinzip in die Augen: Friede, Freude, Ach-was-verstehen-wir-uns-alle-supergut-Eierkuchen.

Und hier hakt Peter Konwitschny ein. In seiner provokanten Inszenierung von Giuseppe Verdis Don Carlos an der Staatsoper nutzt er die Balletteinlage, um diesen Traum vom überschaubaren Spießerleben als Sackgasse zu entlarven. In überkandidelter Slapstick-Manier waltet hier Prinzessin Eboli als Hausfrau in der Küche und muntert im 50er-Jahre-Wohnzimmer ihren gestressten Bürohengst Carlos auf, bevor das Paar mit Freunden gepflegt die Sau rauslässt. Und wo ein verschmortes Hähnchen die größte Katastrophe ist, da steht man gerne stramm, wenn's patriotisch wird.

Bei der Premiere geriet das doppelbödige Intermezzo zur echten Aufreger-Nummer: Minutenlang rangelte die entrüstete Fraktion der Buh-Rufer mit dem jubelnden Rest. Neuen Stoff zum Empören lieferte die Ketzerverbrennung. Konwitschny macht daraus ein Medienereignis. Schon während der Pause faselt in allen Foyers eine Reporterin via Bildschirm von der Ankunft des Königs. Die Zuschauer erfahren per Handzettel, wann sie sich wo aufhalten sollten, und werden so Teil der Inszenierung. Durch sie hindurch prügeln Polizisten die Ketzer, bahnen Kamerateams und Paparazzi sich ihren Weg zur Bühne. Alles erinnert an Wahlkampf-Parties, wie sie die so genannte zivilisierte Welt kennt. Mit dem Kalkül des aalglatten Staatsmannes setzt sich König Philipp in Szene.

Doch diese Don Carlos-Neuproduktion hat mehr zu bieten als präzise Seitenhiebe auf Entwick-lungen der letzten Wochen. Konwitschny findet auch starke Bilder für die Not der einzelnen Figuren. Allesamt sind sie extrem einsame Menschen, aufgerieben von der Sehnsucht nach Nähe, doch gefangen in ihren Ideen und den gesellschaftlichen Zwängen. Da nutzt es auch nicht viel, dass beispielsweise Don Carlos und der Marquis von Posa sich wie verrückt aneinander klammern oder sich ohrfeigen. Trotz der Hassliebe, die sie verbindet: Jeder wird seinen Weg gehen – alleine. Selten hört man ihr Freundschaftsduett im zweiten Akt so aggressiv aufgeladen: Die beiden Männer schreien sich fast an.

Überhaupt bestimmt unüberhörbar die Inszenierung auch die musikalische Interpretation. Da seufzt etwa Don Carlos nach jeder Phrase seiner Romanze, weil er so verliebt ist, oder da mutiert ein Spitzenton in der zweiten Eboli-Arie zum Schrei, weil die Prinzessin sich ihr Gesicht mit einer Scherbe zerschneidet. Das hat durchaus seinen Reiz, aber eigentlich braucht Verdis Musik bei aller inneren Sperrigkeit solche veristischen Eskapaden nicht. Sei's drum – der Zweck heiligt die Mittel. Denn Konwitschny und Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher verwandeln die Aufführung dieses Meisterwerks von 1867 zur Operation am offenen Herzen. Man spürt: Irgendwie geht es immer um alles oder nichts, jede Szene wird auf ihre Weise zum Sprung durch den brennenden Reifen.

Das Team Konwitschny/Metzmacher hat sich für die fünfaktige französische Originalfassung entschieden. Darum dauert die Aufführung knapp fünf Stunden. Dass die Zeit nur so verfliegt, dafür sorgt auch das Ensemble dieser Inszenierung: Allesamt entpuppen sich als großartige Sängerdarsteller. Beispielsweise Gabriel Sadé zeigt den Titelhelden als dünnhäutigen Kindskopf, der aus schmerzender Wut zum Querulanten wird, weil sein Vater, der König, Elisabeth von Valois geheiratet hat. Denn Don Carlos liebt diese Frau, und sie liebt ihn. Daran lässt Danielle Halbwachs als Elisabeth keinen Zweifel. Sie berührt mit ihrem sensibel geführten Sopran und gänsehauterzeugenden Pianissimi-Phrasen. Wenn die junge Sängerin auch zukünftig so umsichtig und unforciert große Partien angeht, wird man noch viel von ihr hören.

7., 13., 18., 21., 25., 28. November, jeweils 18 Uhr, Staatsoper