Unglückliches Bewusstsein

Angeschlossen an einen Geschichtsstrom, der zum Erliegen kam: der Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch ist tot. Zuletzt hat er über sich selbst erdrosselnde Erzählmaschinen geschrieben

Ein Ich, das auch beim letzten Versuch, aus seiner eigenen Haut zu kommen, scheitert

von ULRIKE BAUREITHEL

Öffentliche Auftritte in den letzten Jahren waren spärlich, und wenn er las, mit tiefer Stimme und abgehackt, ließ er wenig Zweifel daran, dass ihm an Austausch nicht gelegen war. Als er 1999 anlässlich des ihm vom Verlag abgerungenen Prosa-Steinbruchs „Mädchenmörder Brunke“ einmal mit Wolf Wondratschek in einer Potsdamer Buchhandlung zusammentraf, versprach er, mit dem „Macho“ Wondratschek „kein hahnenkämpferisches Getue“ veranstalten zu wollen. Dabei hatte man die beiden Dichter als herausragende Vertreter ihrer Generation in Ost und West in einen Boxkampf verwickeln wollen; zu einer Zeit, da im deutsch-deutschen Literaturstreit die Boxfäustlinge gegen die Samthandschuhe ausgetauscht waren und der „literarische Urschrei“ einstiger Dissidenten nur noch peinlich daran erinnerte, dass man der Kunst vor nicht ferner Zeit einmal Geschichtsmächtigkeit zugeschrieben hatte.

Vielleicht empfand Thomas Brasch seine Situation wie jener Rotter in dem gleichnamigen Stück, „der sich an die Stromquelle der Geschichte anschließt und zum Schluss abgeschaltet wird“. Als Vertreter der „dritten Generation“ der DDR war es dem in England geborenen und mit seiner jüdischen Emigrantenfamilie 1947 in die SBZ übergesiedelten Brasch gar nicht möglich, sich vom „Geschichtsstrom“ abzukoppeln. Einmal war es die Sonderrolle jüdischer Intellektuller in der DDR selbst, die deren Nachkömmlinge in eine per se exponierte Position brachte, zum anderen das „Ereignis 1968“, das, wenn man Wolfang Engler folgt, sich im Osten ebenso in die kollektive Erfahrung eingeschrieben und einen Generationenzusammenhang ausgebildet hat wie im Westen.

Wegen „existentialistischer Anschauungen“ exmatrikuliert und in die Produktion verbannt zu werden war Mitte der Sechzigerjahre in der DDR – genauer nach dem 11. Kulturplenum 1965 – gewiss kein Einzelfall, so wenig wie die erneute Relegation als Reaktion auf die Ereignisse in Prag und Ostberlin. Wenn jedoch die Haftstrafe des Sohnes – Brasch brachte das Verteilen eines Flugblattes gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag nicht nur den Rausschmiss aus der Babelsberger Filmakademie, sondern auch über zwei Jahre Gefängnis ein – zum politischen Sturz des Vaters führt, dann ist ein Schuldzusammenhang gestiftet. Er wirkt umso paradoxer, als eben die vom Vater repräsentierte Kulturbürokratie – Braschs Vater war von 1965–68 erster stellvertretender Minister für Kultur in der DDR – dem Sohn durch das faktische Publikationsverbot die Arbeits- und Lebensgrundlage entzieht.

Der Vatermord war also keineswegs ein Privileg der selbst ernannten Revolutionäre im Westen, die Peter Schneider in dem Kultbuch „Lenz“ 1974 literarisch ins Grab begleitete; und kein Zufall ist es, dass der schmale Band drei Jahre später einen „Ost-Bruder“ an die Seite bekam mit dem aufschlussreichen Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne“. Die elf Erzählungen handeln vom unglücklichen Bewusstsein einer Generation, die sich über die Systemgrenzen hinweg einig in ihrem Protest weiß, noch ohne wahrzunehmen, dass dieser unverzichtbarer Teil des Ganzen bleibt: hüben als Modernisierungsmotor, drüben in seinem Bezug auf die Staatsmacht.

Eine Ahnung davon mag Brasch bald aufgeschienen sein, wenn er in „Selbstkritik 3“ schreibt: „Der Plan Die Trauung Das Mandat Der Stacheldraht /Das blöde Grinsen der Behörde /Das ist nicht der Staat / Längst schon bist du der Staat Dein eigenes Gericht / Geschrei nur noch im Schädel / und ein Vers der bricht.“ Die Furcht vor gezielter politischer Vereinnahmung als Dissident – „Was / er seinen Feinden entriß, haben seine Freunde / schon unterm Nagel“, heißt es in „Kargo“ – trieb Brasch immer wieder dazu, sich wiederholt zur DDR zu bekennen. Dass er im „Bauch des (West)Riesen“ nicht schlecht lebte, indem er den westlichen Theatermarkt gut bediente und sich auch als Filmemacher – etwa mit „Engel aus Eisen“ – einen Namen machte, dementiert nicht die grundsätzliche existenzielle Unbehaustheit, die das lyrische Ich umtreibt.

Möglicherweise mag für Brasch die „Geschichtsmaschine“, an die er sich Mitte der Sechzigerjahre anzukoppeln geglaubt hatte, 1989 oder spätestens 1990 zum Stillstand gekommen zu sein, als nämlich absehbar war, dass kein „dritter Weg“ den westlichen Kapitalismus herausfordern würde. Wie vielen seiner dissidenten Landleute ging das „bequeme Gegenüber“ (Brasch), an dem sich reiben lässt, verloren. Was blieb, war das reichlich unbequeme Ich, das sich noch immer nicht wohl fühlt bei sich und auch beim letzten Versuch, „aus seiner eigenen Haut zu kommen“, scheitert.

In diesem letzten Anlauf unternimmt Brasch einen gigantischen Selbstversuch künstlerischer Grenzüberschreitung, der nicht nur die Form des Genres sprengen sollte, sondern auch die Barrieren menschlicher Existenz. Nach sieben öffentlichkeitsabstinenten Arbeitsjahren präsentierte er mit dem Destillat „Mädchenmörder Brunke“ eine Junggesellenmaschine par exellence und stürzte die Rezensenten in einige Verlegenheit. Ziel der siebentägigen Selbstschöpfung ist der Ausbruch aus dem „Elend der Geschlechter“, indem das „lebendige Gegenüber durch die Maschine“ ersetzt wird und vom Schmerz der Liebe entlastet. Die Erlösung bleibt D. H., der als Brunkes „Autor“ firmiert, jedoch verwehrt, lediglich als „Restaurator“ „fugt“ er an den Spalten von Brunkes Geheimnis, während sich die „Erzählmaschine“ am Ende buchstäblich erdrosselt.

Von dieser literarischen „Restaurationsarbeit“ erhoffte sich der ermüdete Autor wohl eine Atempause in seiner (Sehn-)Sucht nach dem „Dritten“, Unbenennbaren, von dem er glaubte, es sei nur im Schlaf zu erkennen. Vor den Vätern sterben die Söhne: Dass nach seinem Bruder Peter Brasch im Sommer dieses Jahres nun auch Thomas Brasch gestorben ist, erfüllt die Prophezeiung in dem Sinne, als dass sie die väterliche Ordnung letztlich nicht zu überwinden imstande waren: „Abschied von morgen Ankunft gestern / Das ist der deutsche Traum.“ Das leere Blatt, das D. H. bei Brunke findet, ist noch immer nicht beschrieben.