Aufgeklappte Mottenkiste

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Die Lage ist zu prekär, um die Außenpolitik den Außenpolitikern und den Krieg den Generälen zu überlassen

„Vielleicht hat unsere Gesellschaft nicht immer die geistige Widerstands- und Offensivkraft, die in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus notwendig wäre.“

Otto Schily in der Märkischen Allgemeinen

Eines Tages könnte Innenminister Otto Schily dämmern, mit welch fatalen Mitteln er selbst dazu beigetragen hat, die „geistigen Widerstands- und Offensivkräfte“ unserer Gesellschaft zu untergraben. Unsere Politiker unternehmen derzeit alles, soweit sie überhaupt dazu imstande sind, um die kulturelle und politische Qualität des westlichen Demokratieprinzips zu ruinieren.

Wenig tröstlich dabei ist, dass Gerhard Schröder, Otto Schily, Joschka Fischer oder Rudolf Scharping nur als eilfertige Provinzpolitiker auf globale Entwicklungen reagieren. Mit dem vorauseilenden Gehorsam der Zwerge unterwerfen sie sich einem Riesen, der gegenwärtig zu den am schlechtesten beratenen Akteuren der Weltpolitik zu zählen ist.

Wenn Lernfähigkeit, die Kraft zur Selbstkorrektur und zur kritischen Selbstreflexion die Stärke der Demokratie ausmachen und die Dominanz der westlichen Zivilisation begründet haben, dann ist es um deren Zukunft schlecht bestellt. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind, trotz der nach wie vor gefährlich zerklüfteten Weltlage, schwerwiegende Wahrnehmungsdefizite festzustellen. Was die Verhaltenstheorie unter „kognitiver Dissonanz“ versteht, behält immer öfter die Oberhand: Alle Informationen, die im Zusammenhang einer getroffenen Entscheidung Bedeutung haben, werden nur noch im Sinne dieser Entscheidung wahrgenommen, ausgewählt, bearbeitet oder gegebenenfalls aussortiert.

Nach diesem Muster operiert zurzeit die Bush-Regierung. Sie nimmt essenzielle Tatbestände nicht mehr wahr – und Informationen nicht zur Kenntnis, über die ihre Geheimdienste durchaus verfügen. „Die bislang kaum verstandene Einzigartigkeit der Strategie von Terroristen liegt darin, dass sie ihr Ziel nicht durch ihre Handlungen, sondern durch die Reaktion auf ihre Handlungen erreichen.“ Das schrieb der Politologe David Fromkin schon 1977 in der Zeitschrift Foreign Affairs. Wer diese simple Wahrheit ausspricht und auf die Strategie der US-Militärs und ihres Präsidenten anwendet, läuft mittlerweile Gefahr, als Geheimnis- und Vaterlandsverräter erkennungsdienstlich behandelt zu werden. Dabei beschreibt Fromkin einen Mechanismus, der bereits im Kindergarten funktioniert. Feuilletonisten, die sich neuerdings, auch in der taz, so angelegentlich bemühen, kindlich-kindisches Verhalten zu definieren, hätten hier ein ergiebiges Betätigungsfeld.

Die Anti-Terror-Koalition sitzt seit dem 7. Oktober in der selbst konstruierten Falle der „kognitiven Dissonanz“. Egal, ob sie die Luftangriffe stoppt oder ein längst zerstörtes Land weiter bombardiert: Sie spielt Bin Laden die Trümpfe in die Hand. Historiker, die das Pathos lieben, mögen hierin dereinst eine „tragische Ausweglosigkeit“ sehen und die heute wieder salonfähig gewordenen Mächte des Schicksals zitieren.

Das Pech von Schröder und Schily ist, dass sie die Tragödie nur als Farce nachspielen können

Die europäischen Politiker, allen voran die deutschen, sind jedoch freiwillig in die Falle gerannt, haben dafür auf demokratische Prinzipien verzichtet und ihre Verstandeskräfte bedenklich vernachlässigt. Zurzeit wirkt sich dies dramatisch auf die politischen Umgangsformen und demokratischen Gepflogenheiten in unserer Gesellschaft aus.

Dass ein Regierungschef Schröder Gewerkschafter, die den Stopp der Bombardierungen gefordert haben, öffentlich zu Deppen erklärt und sie anherrscht, die Außenpolitik gefälligst den Fachleuten zu überlassen, ginge in normalen Zeiten nicht durch. Aber wir haben keine normalen Zeiten. Die Herren mit den metallisch vorgereckten Kinnladen haben nach dem 11. September offiziell eine „ernste Zeit“ ausgerufen; sie haben sich selbst mental in eine Rüstung gezwängt, mit der sie umso heftiger rasseln, je mehr sich zeigt, dass sie gar nicht in sie hineinpassen.

Diese Allianz von Fantasielosigkeit und martialischem Gebaren ist uns Deutschen seit dem August 1914 nur allzu vertraut. Ebenso der Kadavergehorsam, der stets gemeint war, wenn deutsche Minister in ernsten Zeiten an die „geistigen Widerstandskräfte der Gesellschaft“ appellierten.

Das Pech von Gerhard Schröder und Otto Schily ist, dass sie als Darsteller allenfalls dazu taugen, die deutschen Tragödien als Farce nachzuspielen. Leider hat kein Gewerkschafter den Kanzler in aller Ruhe darauf aufmerksam gemacht, dass die Lage bedauerlicherweise zu prekär ist, um die Außenpolitik den Außenpolitikern und den Krieg den Generälen zu überlassen.

Ein Worst-Case-Szenario könnte so verlaufen: Die Bombardierung Afghanistans geht auch über den Winter weiter. Die Anti-Terror-Koalition zerfällt partiell und verliert ihre islamischen Partner. Die Terroristen antworten, logistisch gestärkt, mit neuen Angriffen auf die westliche Zivilbevölkerung. In den Vereinigten Staaten übernehmen die Rambos das Kommando und drängen – nach dem Gesetz der kognitiven Dissonanz – darauf, nicht nur mit B-52-Bombern, sondern auch mit Bodentruppen die Katastrophe des Vietnamkriegs zu wiederholen. Zu seinem Leidwesen bietet Rudolf Scharping vergeblich deutsche Unterstützung an. 2002 fällt in Deutschland – uneingeschränkte Solidarität in ernster Zeit – der Wahlkampf weitgehend aus. Otto Schily schiebt sein drittes und viertes Paket zur inneren Sicherheit ins Kabinett und durch den Bundestag.

Das Weitere will ich mir nicht ausmalen: Zu abgeschmackt ist das Szenario und zu bitter die Erkenntnis, dass nach Enzensbergers Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gerade das Abgeschmackteste eintreten könnte. Die Mottenkisten der Geschichte sind sehr weit aufgeklappt.

Diese Allianz der Fantasielosigkeit ist uns Deutschen seit dem August 1914 nur allzu vertraut

Aus ihnen bedienen sich, neben dem Innenminister, vor allem einige Feuilletonisten, die den Anschluss an Carl Schmitt und andere Vordenker der Zwanzigerjahre suchen. Henryk M. Broder hat seine Homepage zur ideologischen Festung gegen die Friedensbewegung ausgebaut; Kurt Scheel und Karl Heinz Bohrer machen ihren Merkur für den so innig herbeigesehnten deutschen Bodeneinsatz winterfest. „Helm ab zur Gebetsmühle“ (Patrick Bahners in der FAZ). Der Rest plappert – unfasslicherweise, doch erwartet – die Tirade vom „Antiamerikanismus“ nach, jener angeblichen Erbsünde der deutschstämmigen kritischen Intelligenz.

Dass die kritischsten, solidesten und am besten recherchierten Analysen zur Lage derzeit von US-amerikanischen Intellektuellen geschrieben werden – das nimmt die neue Kriegsaufgeregtheit in Deutschland nicht zur Kenntnis; es übersteigt auch ihren Horizont.