berliner szenen: Folgenlose Jahrestage
Herr Brinkmann
Eigentlich konnte Brinkmann mit Sven Regeners Buch „Herr Lehmann“ nicht so viel anfangen. Dass dies nun der definitive Kreuzberg-Roman sei, wie es überall stand, fand Brinkmann gar nicht. Weder konnte er Ähnlichkeiten mit „seinem“ Kreuzberg feststellen noch mit Herrn Lehmann. Brinkmanns familiärer Hintergrund war ein akademischer, 1987 wären für ihn auch Köln oder Hamburg als Studienstädte in Frage gekommen, und auch in Kreuzberg verfolgte er seinen Lebensplan: Jurastudium, Auslandsaufenthalt, Richterlaufbahn.
Was Brinkmann aber toll fand an Herrn Lehmann, war dessen Teilnahmslosigkeit am 9. November. Da war ihm diese Figur wenigstens einmal nahe. Noch beim Lesen der letzten Seiten erinnerte er sich an sein eigenes 9.-November-Wochenende. Er jobbte als Lieferfahrer bei Neupert, einem Westberliner Schuhladen, der ein paar Monate später pleite ging. Tagsüber hatte er viele Wartburgs und Trabants rumfahren sehen, und als er abends am Hermannplatz aus der U-Bahn stieg, standen dort die DDR-Bürger schon Schlange an allen Banken. Danach war Brinkmann auf eine Party in Kreuzberg gegangen, als wenn nichts gewesen wäre, am nächsten Tag ins Café M, wie jeden Samstag, und tags drauf Skat spielen, wie jeden Sonntag. Nicht einmal war er an einem Grenzübergang, warum auch? Was die Woche danach passierte, war Brinkmann völlig entfallen. Alles ging seinen Gang. Später fuhr man „rüber“, um zu gucken, ja, und bald hatte sich sein Nachtleben vollständig in den Ostteil der Stadt verlagert. Dass aber der Mauerfall auf seine persönliche Entwicklung einen größeren Einfluss hatte – Brinkmann würde das auch heute, zwölf Jahre später, schlichtweg abstreiten. GERRIT BARTELS
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