Die Einsamkeit der Aufsteiger

Integration durch Bildung: New Yorks Schulkanzler Harold O. Levy beim Vortrag in Berlin

Überraschungen gibt es immer wieder. Als dieser Tage der New Yorker Schulkanzler Harold O. Levy in die American Academy in Berlin lud, stellte sich schnell die eigentliche Farbe des Abends heraus: Grün. Ausgerechnet das Umfeld der amerikakritischen Partei, die überdies in Sachen Bildung nicht mehr eben viel zu bestellen hat, war gekommen, um dem Chef von über 1,1 Millionen Schülern zu lauschen. Die bildungspolitischen Einflüsterer der Grünen von der Heinrich-Böll-Stiftung waren da, und Cem Özdemir durfte Levys Vortrag über New Yorks bilinguales Schulprogramm ein eloquentes Entrée bereiten.

Der Bundestagsabgeordnete, so schien es, war schnell die heimliche Hauptperson des Abends. Der schwäbische Anatole, wie sich Özdemir gerne nennt, legte für Levy, der gleichfalls Sohn von Immigranten ist, so formvollendet wie klug die Folie des Vergleichs aus: Berlin, Deutschland, so seine Botschaft, tut sich schwer mit den Schülern türkischer Herkunft. Wie ist das in New York? „Harold, it’s your turn.“ Brillant, Mister Özdemir, dachte man stille. Doch es war, bei aller Anerkennung, die Özdemir erfuhr, in Wahrheit ein bitterer Abend für ihn.

Harold O. Levy ist kein Gelehrter, schon gar kein Pädagoge, sondern ein intelligenter Manager. Er kennzeichnete mit zwei Formeln sein Ideal von New Yorks Schulen. „Education is the way out“, sagte Levy und ließ ein bisschen mehr american dream mitschwingen, als es das deutsche „Bildung heißt Aufstieg“ sagt. Levy bezog das gerade auf die Immigranten und erklärte sie und ihre Kinder zum Angelpunkt New Yorker Schulpolitik – weil die sich an den Schwächsten orientieren müsse.

In Anbetracht der Realität New Yorks, wo in bestimmten Schichten und Schulformen praktisch 60-prozentiges Englisch-Analphabetentum vorherrscht, war das natürlich ein bisschen sehr viel american dream. Trotzdem zuckte Özdemir zusammen. Die Beklommenheit, die ihn ergriff, lässt sich vielleicht aus einem Satz verstehen, den er jüngst in einem taz-Gespräch fallen ließ: „Was wir bräuchten, ist eine doppelte Bildungsoffensive – eine, die den zugewanderten Familien klar macht, dass nur eine gute Qualifikation in diese Gesellschaft hineinführt. Und eine, die endlich die unsichtbaren Schranken im Bildungswesen beiseite räumt, die Deutschtürken den Weg versperren.“ Doch Özdemir ahnt, dass es diese Offensive nicht geben wird – weil hier niemand gedenkt, die Immigranten zum Angelpunkt von Schule zu machen.

500.000 Schüler in der Bundesrepublik sind türkischer Herkunft – aber es studieren nur 20.000 junge Leute aus dieser Gruppe. Wo sind die anderen verloren gegangen? Özdemir weiß es: Sie sind in der Zwickmühle aus türkischer Bildungsferne und deutscher Ausschließung stecken geblieben. Er selbst hat aus ihr herausgefunden. Der junge Özdemir war in der Realschule nur beim Sammeln von Vieren und Fünfen fleißig, zum Abi biss er sich später auf dem zweiten Bildungsweg durch. Heute ist Özdemir türkischer Vorzeigeimmigrant – und ziemlich einsam in dieser Rolle.

Während Cem Özdemir versonnen Harold O. Levy zuhörte, sagte der: „Wie ein Land mit Immigranten umgeht, definiert zu einem großen Teil, was eine Gesellschaft sein will. Es sagt uns, wer wir sind.“ Özdemir nickte, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie viele Deutsche mit Fremden umgehen. Dabei war diese Botschaft gar nicht für den smarten traurigen Deutschtürken gedacht: Levy sprach über sich und das Deutschland, aus dem seine Eltern 1939 geflohen waren. Und für einen Moment gab es zwei einsame Männer in der American Academy.

CHRISTIAN FÜLLER