Die missverstandene Säkularisierung

Wie Jürgen Habermas von der Religion überrascht wurde: Die säkularisierte Gesellschaft ist keineswegs eine religionslose Gesellschaft. Auch wenn religiöse Motive in einer sich wandelnden Welt zunehmen, ist noch kein postsäkulares Zeitalter in Sicht

Es ist kein Zufall, dass der Gen-Diskurs das Religiöse fast unweigerlich anzieht

von ARMIN NASSEHI

Religiös unmusikalisch zu sein – dieses Max Weber zitierende Bekenntnis gehört geradezu zum guten Ton intellektueller Selbstdarstellungen, wenn nachmetaphysisch übers Religiöse räsoniert werden soll. Und auch Jürgen Habermas kokettiert in seiner Paulskirchen-Rede mit jenem bekennenden Nichtbekenntnis, freilich nicht ohne dem Gedanken einer zwar unmusikalischen, dafür aber sehr entgegenkommenden Hörbereitschaft Ausdruck zu verleihen. Geradezu konzertant mutet Habermas’ Analyse an, in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen die radikale Differenz von Schöpfer und Geschöpf ebenso zu rekonstruieren wie die Unbedingtheit des anderen, dessen Mitgeschöpflichkeit ihn ebenso frei wie ansprechbar macht. Man müsse die religiösen/theologischen Prämissen nicht glauben, um zu verstehen, was es bedeutete, wenn Schöpfer und Geschöpf in eins fielen, wenn wir also Schöpfer unserer selbst wären, sagt Habermas. Einmal mehr erweist sich Habermas hier als ein Meister des rekonstruktiven Verfahrens, das nicht nur im philosophischen, sondern offensichtlich auch im religiösen Diskurs der Moderne Spuren einer Vernunft entbirgt, die als kommunikative Vernunft in den Verhältnissen liegt und konsensuelle Lebenswelten stiften kann.

Anlass für Habermas’ Entgegenkommen in Richtung religiöser Beschreibungen ist die Debatte um die technische Verfügbarkeit des menschlichen Genoms und die damit denkbar gewordene Möglichkeit, die genetische Disposition des Menschen sichtbar zu machen. Seine Position besagt, dass sich keinerlei biologische Kriterien finden lassen, in den genetischen Zufallsgenerator der Natur einzugreifen oder nicht. Allein moralische Kriterien lässt Habermas gelten. Er plädiert gegen das Klonen von Menschen, weil damit ein zuvor nicht zurechenbarer Zufall zurechenbar wird. Schon sein öfter vorgebrachter Gedanke, dass die Autonomie und Ebenbürtigkeit eines Individuums zerstört würde, ließe sich sein natürliches So-Sein der technischen Verfügbarkeit eines anderen unterwerfen, zieht einen religiösen Grundgedanken geradezu an: die Nicht-Verfügbarkeit unseres Daseins als Voraussetzung für unsere eigene Freiheit.

Habermas scheint selbst überrascht, vielleicht sogar erschrocken zu sein über diesen Gedanken. Seine Rede über Glauben und Wissen nimmt deshalb ihren Ausgangspunkt von der recht konventionellen Vorstellung, die moderne Kultur und Gesellschaft sei das Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses. Darunter wird üblicherweise die Entlassung der meisten gesellschaftlichen Funktionsbereiche wie Politik, Wissenschaft, Recht oder Erziehung aus dem Bestimmungsbereich der Religion oder wenigstens der Kirchen verstanden. Der Begriff selbst ist ein Rechtsbegriff. Er geht auf die materielle Enteignung von Kirchenbesitz zugunsten des Staates zurück. Schon mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde mit dem Prinzip des cuius regio, eius religio ein Primat des Politischen vor dem Religiösen eingeläutet, das dann mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 für das gesamte Reichsgebiet festgeschrieben wurde. Unter anderem hier begann das, was wir gerne den europäischen Prozess der Aufklärung nennen, die Entstehung nationalstaatlicher Ordnungen, eines sich entfesselnden Wirtschaftssystems, dessen Geldmedium sich kultureller Imprägnierung mehr und mehr entzog, und nicht zuletzt eines wissenschaftlichen Wahrheitsmonopols.

Habermas weist mit Recht jenes zu einfache Nullsummenspiel zurück, das Kritiker wie Apologeten des Säkularisierungsprozesses stets ins Feld führen. Für die einen fällt Säkularisierung mit Sinn- und Wertverlust zusammen, für die anderen steht er für die Durchsetzung eines wissenschaftlich-aufgeklärten Weltbildes, das die historische Unvernunft abgestreift hat. Habermas dagegen sieht in der zivilisierenden Rolle eines demokratisch aufgeklärten Common Sense eine dritte Partei, die sich osmotisch sowohl hin zur Wissenschaft als auch hin zur Religion offen halte. Habermas schaltet also die politische Öffentlichkeit zwischen Wissenschaft und Religion und deutet eine Versöhnung zwischen den Motiven des Glaubens und des Wissens an. Solche modernen Öffentlichkeiten hätten sowohl das Erlösungs- und Sinnmotiv der Religion aufzunehmen als auch Kriterien dafür in der Sprache der Vernunft und der wissenschaftlichen Plausibilität zu formulieren. Habermas bietet damit eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft an, die auf eine ganz andere Weise säkularisiert ist, als es zunächst den Anschein hat. Denn Säkularisierung kann auch bedeuten, dass bestimmte Motive, Inhalte oder Ideen, die wir dem christlichen Kosmos unserer Vergangenheit entnehmen, nun säkularisiert weitergeführt werden, also mit den Mitteln der (öffentlich-politischen) Vernunft oder der (wissenschaftlichen) Aufklärung. Habermas’ Theorie der Moderne ist also in der Weise säkularisiert, dass sie Versöhnungsmotive, Motive der Sinngebung und der moralischen Rechtfertigung aus der religiösen Sphäre löst und in eine Sprache übersetzt, die explizit ohne ihre religiöse Vorgeschichte auskommt, aber auch einen Szientismus vermeidet, der diese Motive über die Köpfe der Beteiligten hinweg dogmatisch dekretiert. Mit Habermas’ Grundmotiv einer Versprachlichung des Sakralen wird eine Selbstbeschreibung der Moderne vorgenommen, die letztlich am politischen Selbstbewusstsein des klassischen Nationalstaatsmodells ansetzt. Dessen religionsähnliche Motive der nationalen Gemeinschaft und Erhabenheit werden selbst noch einmal säkularisiert und zu einer Gemeinschaft einer frei diskutierenden Öffentlichkeit heruntergebrochen, die Fragen der praktischen Vernunft diskursiv beantwortet.

Säkularisierung stellt sich als Ausdifferenzierung der Religion dar

Dass angesichts mancher Fragen religiöse Motive und Kommunikationsformen anschließen, ja dass sie religiöse Motive geradezu an sich ziehen, verweist aber eher auf Differenzierung und Verselbständigung gesellschaftlicher Funktionen als auf die historische Kontinuität von Erlösungsmotiven. Aus einer solchen Perspektive stellt sich Säkularisierung zunächst als eine Ausdifferenzierung der Religion dar, und zwar als eine Ausdifferenzierung der Funktion der Religion neben anderen Funktionen wie Politik und Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung und Kunst. So folgt das Politische mehr und mehr einer ausschließlich politischen Logik, so lässt sich Kunst nicht mehr religiös konditionieren, und selbst wenn man wissenschaftliche Ergebnisse kaufen kann, müssen diese Ergebnisse doch wissenschaftlich und nicht ökonomisch begründet werden. In diesem systemtheoretischen Verständnis bedeutet Säkularisierung dann keineswegs einen Bedeutungsverlust oder gar Funktionsverlust von Religion. Womöglich ist das, was wir in der Neuzeit Religion nennen, erst das Ergebnis eines Ausdifferenzierungsprozesses. Erst hier entsteht jene Spezialfunktion des Religiösen, die zunehmend entlastet wird von politischen, ökonomischen oder erzieherischen Funktionen. Das bedeutet nicht, dass Religion nichts mit Geld zu tun hat, für Erziehung irrelevant sei oder politisch untauglich wäre – im Gegenteil. Aber all dies setzt ja bereits die Ausdifferenzierung der Funktionen voraus. Und all dies ist erst die Voraussetzung für jene extreme Steigerung der religiösen Logik, die wir nun aus der Moderne kennen. So sind etwa die extreme Moralisierung des Religiösen, der religiöse Fundamentalismus, aber auch das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ziemlich moderne Erfindungen.

Das Bezugsproblem des Religiösen für die moderne Gesellschaft ist freilich nicht, wie es große Teile der Religionssoziologie, aber auch viele Selbstbeschreibungen der Religion implizieren, der Welt als ganzer einen Sinn zu verleihen oder Antwortmöglichkeiten für letzte Fragen vorzuhalten. Das lässt schon die Privatisierung religiösen Erlebens sowie der konfessionelle und religiöse Pluralismus nicht zu und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft schon gar nicht. Aber man darf die vormalige gesellschaftliche Rolle der Religion nicht mit ihrer Funktion verwechseln. Von Religion ist demnach immer dann die Rede, wenn es in der gesellschaftlichen Kommunikation zu Fragen der Gleichzeitigkeit von Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit kommt, wenn also Sachverhalte, Erlebnisse, Probleme, Wahrnehmungen usw. unter Hinweis auf prinzipiell Unbestimmbares bestimmbar gemacht werden und dabei immanent auf Transzendentes verwiesen wird – also etwa auf den Tod im Hinblick auf bevorstehende Erlösung, auf Leid im Hinblick auf eine Prüfung oder auf Zufälle im Hinblick auf ewige Ratschlüsse. Eine solch abstrakte Bestimmung des Religiösen ist nötig, um das Bezugsproblem religiöser Kommunikation verstehen zu können. Man kann dann auch sehen, dass zwar Individuen auf religiösen Zuspruch verzichten können, dass die Funktion religiöser Kommunikation für die Gesellschaft aber darin besteht, Bestimmbarkeiten zu sichern und dafür Potenziale des Unbestimmbaren zu nutzen. So ist Religion auf Geheimnisse angewiesen, darauf, dass sich kurz vor der Enthüllung doch Unsichtbarkeit einstellt. Bilderverbote zeugen davon ebenso wie die symbolische Sprache oder der knapp gehaltene Zugang zu Sakralrollen. Man darf das religiöser Kommunikation nicht vorwerfen, denn exakt das ermöglicht ihr die Erfüllung ihrer Funktion – dort, wo sich nichts mehr bestimmen lässt, zu Bestimmungen zu kommen. Und gerade die Verweisung auf Unbestimmtes bzw. unbestimmbar Bleibendes macht Religion anfällig für Dogmatisierungen und Radikalisierungen, weil sie sich eben nicht an Bestimmbares halten kann.

Es ist also kein Zufall, dass der Gen-Diskurs das Religiöse fast unweigerlich anzieht – als gesellschaftliches Kommunikationsproblem. Vielleicht ist Habermas deshalb so erschrocken, weil er selbst das Unbestimmbare menschlicher Existenz in Anspruch nehmen musste, um zu Bestimmungen des Menschen zu kommen. Seine Konzession ans Religiöse ist selbst noch allzu sehr von jenem Gedanken der Säkularisierung als Fortführung religiöser Motive mit anderen Mitteln geprägt. Religion ist nur ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft unter anderen – und gerade das macht ihre Potenz aus. Die in diesem Sinne säkularisierte Gesellschaft ist alles andere als eine religionslose Gesellschaft. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, dass religiöse Motive in einer sich radikal wandelnden Welt zunehmen werden. Ihre Bestimmbarkeit folgt nicht mehr den üblichen Bestimmungsroutinen des Normalmodells westlicher Nationalstaaten. Das gilt sowohl für die neu vermessene innere Natur des Menschen und durch neue Techniken induzierte (ethisch genannte) Entscheidungsprobleme wie für die äußere Gestalt einer globalisierten Weltgesellschaft, in der die Unbestimmbarkeit zum Signum schlechthin geworden zu sein scheint. Dass religiöse Motive weltgeschichtliche Bedeutung bekommen, können wir derzeit allzu schmerzlich wahrnehmen. Dass Habermas darüber so erschrocken ist, lese ich vor allem als ein Symptom – übrigens auch dafür, wie verniedlichend westliche Selbstbeschreibungen mit ihren eigenen Antinomien umgehen und wie sehr noch der wohlwollende Hinweis auf entgleisende Säkularisierungen etwa in der arabischen Welt zum erhobenen Zeigefinger gerät, der den eigenen Selbstbeschreibungen allzu sehr auf den Leim geht. Glaubensmächte, überall!