Drinnen vor der Tür

Eva. Anja. Die Gedichte vortragende Bettelmönchin von der Schanze. Ein Porträt  ■ Von Peter Brandhorst
(Text) und Babette Brandenburg (Foto)

Manchmal, sagt Eva, bin ich bloß traurig. Dann muss ich ganz schnell zurück in mein Zuhause. Keinen Pfennig hab ich dann verdient, nichts, nur übergroße Trauer in mir. Und Angst, viel Angst. Die ist ja immer da, stete Begleiterin eines jeden Tages, manchmal kann die dich fast erdrücken. Dann musst du richtig aufpassen, musst suchen nach deinem Stolz. Doch am nächs-ten Tag gehst du wieder hin zu den Menschen. Du musst das tun, unbedingt.

Eva trägt Gedichte vor, Eva bettelt, Eva muss zu den Menschen. Jeden Tag eine neue Übung, jeder Tag wie hartes Training. Meine Würde trainiere ich, sagt Eva, ich bemühe mich, sie nicht zu verlieren. Und manchmal ist da riesige Freude, dann fühle ich mich ganz stolz und beginne, auch mich selbst zu akzeptieren. Ich gebe, weil ich nehme. So ist ihr Leben. Mit Leuten einfach so reden zu können, das übe ich noch, doch schon als Kind habe ich Gefühle gerne in Gedichten ausgedrückt.

Also, mögt ihr einige Zeilen hören?, fragt Eva nach jeder geschnorrten Mark, von Ringelnatz? Also, zum Beispiel: Der Briefmark.

Und dann steht Eva, ihren schlotterdünnen Körper auf kerzengerade 1,74 Meter aufgerichtet, die Hände an den Beinen schlackernd, den Kopf leicht schräg erhoben, an Tischen oder vor Bänken und beginnt: Also. Der Briefmark:

Ein männlicher Briefmark erlebte was Schönes, bevor er klebte. Er war von einer Prinzessin beleckt. Da war die Liebe in ihm erweckt. Er wollte sie wiederküssen, da hat er verreisen müssen. So liebte er sie vergebens. Das ist die Tragik des Lebens.

Jede Woche, jeden Tag bewegt sich Eva durch das Hamburger Schanzenviertel, mit Ringelnatz im Kopf und eigenen Versen auf den Lippen. Ich biete Literatur an, sagt Eva, zwei Jahre nun schon, fast eine kleine Ewigkeit für sie, und demnächst muss sie unbedingt mal wieder in die Bücherhalle, nach neuen Gedichten suchen, Morgenstern lesen und Hermann Hesse. Oder Eugen Roth, der soll auch ganz interessant sein. Aber erst wird sie jetzt durch die Cafés gehen, in die Bars, auf der Suche nach etwas Geld. Ich würd' sagen, dass ich eine Bettelmönchin bin, lächelt sie, ich bin die Bettelmönchin aus dem Schanzenviertel.

Das ist meine Heimat hier, mein Zuhause, sagt Eva, die Leute kennen mich, zehn Mal am Tag werde ich gegrüßt, mindestens, das macht mich glücklich. Ich fühle mich hier vollkommen geborgen, das Viertel hat ja so viel Humor.

Lange schon, 12 Jahre, kennt Eva das Leben auf der Schanze, hat früher, nach dem Fachabitur, eine Schneiderin-Lehre abgebrochen und danach eine Altenpflege-Ausbildung begonnen. Eigentlich war ich mein ganzes Leben lang nicht arbeitsfähig, sagt Eva, und mit Geld konnte ich auch noch nie umgehen. Mein Stolz hält mich über Wasser, und jeden Tag muss ich 17,50 Mark auf die Seite legen, wenigstens das klappt ganz gut inzwischen. 29 Quadratmeter irgendwo um die Ecke, ein Zimmer mit Dusche, das will sie behalten. Unbedingt behalten.

Eva erzählt von früher, von Anja und deren Eltern. Erzählt davon, dass Evas Mutter ihre Tochter eine Woche nach der Geburt weggegeben hat, zur Adoption, und dass die kleine Anja später immer Junge sein wollte, weil der neue Vater ihr die geschlechtliche Integrität zerstört hat, da war Anja erst vier Jahre alt. Anja hat sich ihr ganzes Leben lang geschämt, erzählt Eva, hatte immer bloß Angst und nie Stolz. Die Mutter hatte sie ja weggeworfen. Anja hat sich immer angegriffen gefühlt, konnte niemals einen Rat annehmen, für alles Schlechte in der Welt hat Anja sich selbst die Schuld gegeben.

In der Schule, erzählt Eva, hat Anja sich immer weggebeamt, hat ihre Seele irgendwo oben in eine Ecke gehängt, und der Körper unten hat sich nicht mehr getraut zu atmen. Atem ist Leben, und alles Lebendige schien bloße Schwäche zu sein. Anja hat die Unmöglichkeit des Lebens gespürt, erklärt Eva, jede Schwangere wurde von Anja verachtet. Dein Weg wird die Hölle sein, hat damals eine innere Stimme ihr gesagt. Aber später, wenn du groß bist, dann wirst du bestimmt zufrieden leben können. Anja beschloss, spätestens mit 40 glücklich sein zu wollen.

36 ist sie jetzt, und vor zwei Jahren hat sie erstmals ihre Mutter getroffen. Hat einen fremden, zerbrochenen Menschen erlebt und erfahren, dass die Tochter dieser Frau eine Woche lang Eva hieß. Ich weiß jetzt: Ich will leben, sagt Eva, ich versuche einfach zu überleben, nur das Überleben zählt. Bestimmt nutze ich die Zeit bis 40. Um abzuspringen.

Ich bin oft völlig unsicher, sagt Eva, Betteln ist eine permanente Selbsterfahrung. Aber wenn ich andere Leute mit meinen Gedichten zum Lächeln oder Nachdenken bringe, dann muss ich mich nicht mehr schämen. Ich bin kein Abfall, sagt sie, bin nicht weniger wert als jemand, der richtig arbeitet.

Und so bewegt sie sich jeden Tag durch die Straßen und Bars auf der Schanze, kämpfend, verwundbar. Aber was ich mache, sagt Eva, das tue ich heute meist mit Stolz.

Mit Stolz auf der Suche nach ihrem eigenen Weg zur Erlösung. Hoffentlich bald Erlösung von all den Dämonen, sehnt Eva, Befreiung von diesen Satans, die in ihr herrschen. Die Angst, die Schuldgefühle, lauter quälende Geister, unermüdlich marternd, ganz tief drinnen, jede Sekunde. Der Erlöser, Jesus Christus, noch findet er keinen Platz in mir, noch wütet der Satan, sagt Eva, doch bald wird Jesus eins sein mit mir, mit mir verschmolzen in meinem Körper. Ich kann nur diesen Weg gehen, den Cundalini-Weg zu meinem spirituellen Körper, zu meiner Einheit mit dem Unendlichen im Überbewusstsein. Cundalini, die fernöstliche Lehre, weiß Eva, ist die absolute Aufrichtung meines Ichs.

Ich weiß, ich muss mich befreien, aber nur ich selbst kann mir vergeben, mir selbst vergeben im Vertrauen auf Gott. Der Weg dorthin verursacht wahnsinnige Schmer-zen, fügt Eva leise hinzu, ich muss dafür noch vorwärts und rückwärts durch die Hölle laufen.

Gleich werden heftige Schauer die Menschen von den Straßen fegen. Mitten im Sturzregen eine barfüßige Frau, ganz langsame Bewegungen nur. Das Heroin dämmt, wenn die Qual ganz stark wird. Ich suche den Halt, sagt Eva, und rutsche doch immer wieder in die Tiefe, rasend tief nach unten. Und danach muss ich erst ganz mühsam wieder aufstehen. In diesem Käfig mit der offenen Tür. Ich könnte ja rausgehen, sagt Eva. Aber ich finde diese Tür einfach nicht.