Ein Akt von Staatsterrorismus

Heute wird im La-Belle-Prozess das Urteil verkündet. Der Anschlag auf die Berliner Diskothek im Jahr 1986 war ein Racheakt Libyens gegen die USA

aus Berlin HEIKE KLEFFNER

Ein dicker brauner Vorhang schirmt den Gang vor dem Saal 700 vor neugierigen Blicken ab. Hier, vor der 39. Kammer des Berliner Landgerichts, wird heute das Urteil im La-Belle-Prozess gesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat für die vier mutmaßlichen Haupttäter lebenslange Freiheitsstrafen gefordert. Für die fünfte Angeklagte, die heute 36-jährige Andrea Häusler, haben sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Freispruch mangels Beweisen beantragt.

Alle, die Zugang zum Gerichtsaal haben, müssen durch eine Schleuse aus Panzerglas gehen. 280 Verhandlungstage lang hat die 39. Kammer des Landgerichts Berlin unter schärfsten Sicherheitsbedingungen versucht, die Hintergründe des Anschlags auf die Berliner Diskothek „La Belle“ vom 5. April 1986 aufzuklären. 169 Zeugen wurden vom Vorsitzenden Richter Peter Marhofer, Oberstaatsanwalt Detlev Mehlis, einem Dutzend Verteidiger und mehr als 20 Nebenklagevertretern befragt. Zehn Millionen Mark hat der Prozess gekostet.

Bis zu den Anschlägen von New York und Washington am 11. September schien der Mammutprozess um den Sprengstoffanschlag auf die vor allem bei afroamerikanischen Soldaten beliebte Schöneberger Diskothek „La Belle“ am 5. April 1986 fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Schon zu Prozessbeginn im November 1997 hatte sich die weltpolitische Lage um 180 Grad gedreht. Die DDR und ihren Staatssicherheitsapparat gab es nicht mehr. Auch US-Präsident Ronald Reagan und die dunklen Allianzen von Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi im Kampf gegen den „Erzfeind USA“ hatten längst ihren Platz in der langen Chronik des Kalten Kriegs zugewiesen bekommen. Im Saal 700 traten die kleinen und mittleren Protagonisten jener Zeit auf.

Das Attentat

Die drei Kilogramm Plastiksprengstoff, am Rande der vollen Tanzfläche in der Diskothek an der Schöneberger Hauptstraße abgestellt, rissen gegen 1.30 Uhr am 5. April 1986 drei Menschen in den Tod: die beiden in Berlin stationierten US-amerikanischen GIs Terrance Ford (21) und James Goins (25) sowie die 28-jährige türkische Migrantin Nermin Haney. Über 200 Besucher der vor allem bei GIs beliebten Diskothek wurden zum Teil schwer verletzt. 104 Opfer jener Nacht sind im Prozess als Nebenkläger zugelassen. Sie warten nicht nur auf ein Urteil, sondern auch auf Entschädigung. Zahlen soll Libyen, das nach Ansicht der Staatsanwaltschaft als Drahtzieher hinter „diesem Akt von Staatsterrorismus“ stand.

Es war wohl kein Zufall, dass Saif al-Islam Gaddafi, Sohn des libyschen Staatschefs und dessen internationaler Emissär, in der letzten Woche Deutschland besucht hat. Der 30-Jährige hatte schon bei den Verhandlungen um die Freilassung der Jolo-Geiseln eine Vermittlerrolle gespielt. Jetzt, kurz vor der Urteilsverkündung im La-Belle-Prozess, bietet Saif al-Islam Gaddafi seine Hilfe als Vermittler zwischen dem afghanischen Taliban-Regime über eine Lösung für die acht gefangenen Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Shelter Now“ an. Gaddafis Sohn könnte auch Bewegung in die vom Auswärtigen Amt seit Jahren erfolglos geführten Verhandlungen mit Libyen über eine Entschädigung der La-Belle-Opfer bringen.

Die Opfer hoffen, dass die Affäre um die im Frühsommer diesen Jahres bekannt gewordenen vertraulichen Gesprächsprotokolle zwischen Bundeskanzler Gerhard Schörder und US-Präsident George W. Bush über die Rolle Libyens Bewegung in die stockenden Verhandlungen gebracht haben. In dem Protokoll wird Kanzlerberater Michael Steiner mit dem Satz zitiert, Libyens Staatschef Gaddafi habe eine Beteiligung an terroristischen Aktivitäten eingestanden. Versuche, Steiner und den deutschen Botschafter in Washington, DC, dazu als Zeugen im La-Belle-Prozess zu befragen, scheiterten allerdings an den außenpolitischen Interessen der Bundesregierung. Die bemüht sich derzeit um bessere Beziehungen zum einstigen „Schurkenstaat“.

Im April 1986 dagegen waren die Beziehungen zwischen den USA und Libyen angespannter denn je. US-amerikanische Kampfflugzeuge hatten im Mittelmeer zwei libysche Kriegsschiffe versenkt, bevor die Bombe in West-Berlin explodierte. Nach dem Anschlag auf die Diskothek eskalierte der Konflikt. US-Präsident Reagan ließ zehn Tage später die libysche Hauptstadt Tripolis und die Hafenstadt Bengasi bombardieren. 36 Zivilisten wurden getötet, unter ihnen Gaddafis Adoptivtochter.

Die Ermittlung

Zunächst hatten die Westberliner Ermittler hinter dem Anschlag auf „La Belle“ den syrischen Geheimdienst vermutet. Erst die Öffnung der Stasi-Archive und das unerwartete Geständnis eines der mutmaßlichen Hauptbeteiligten, des Libyers Musbah Eter, gegenüber dem deutschen Botschafter im September 1996 brachten den Prozess ins Rollen. Eter hatte früher in der Bonner Botschaft Libyens, ab 1986 in Ostberlin gearbeitet.

Schon vor Eters Geständnis hatte die Berliner Staatsanwaltschaft durch nun zugängliche Stasi-Unterlagen eine Reihe von Verdächtigen ausgemacht. Der vor Prozessbeginn verstorbene Stasi-Oberleutnant Rainer Wiegand hatte 1988 Ali Chanaa vernommen. Der heute 42-jährige Palästinenser, der unter dem Decknamen „Alba“ der Stasi jahrelang über die Aktivitäten rings um das libysche Volksbüro in Ostberlin berichtet haben soll, wurde im Oktober 1996 ebenso wie seine inzwischen geschiedene deutsche Ehefrau Verena Chanaa (42) in Berlin festgenommen.

Chanaa hatte 1984 den staatenlosen Palästinenser Yasser Chraidi in Ostberlin kennen gelernt. Dieser gilt als einer der Haupttäter im La-Belle-Verfahren. Er soll aus Tripolis auch den genauen Zeitpunkt zum Losschlagen übermittelt bekommen haben. Gemeinsam mit dem heute 44-jährigen Musbah Eter und Ali Chanaa habe er am Abend des Attentats in der Wohnung von Ali und Verena Chanaa den Sprengsatz zusammengebaut. Die Anklage geht davon aus, dass Verena Chanaa Plastiksprengstoff und Zünder in ihrer Handtasche in die Diskothek brachte und dabei von ihrer jüngeren Schwester, Andrea Häusler, begleitet wurde. Die Verteidigung erklärt, Verena Chanaa sei von ihrem Ehemann ausgenutzt worden. Sie hatte nach ihrer Festnahme bestritten, die Bombe gezündet zu haben. Für ihre Schwester, die heute 36-jährige Andrea Häußler, haben sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Freispruch mangels Beweisen gefordert.

Das Urteil

Die Angeklagten Eter und Chanaa widerriefen im Prozessverlauf mehrfach ihre Geständnisse und belasteten ihre Mitangeklagten schwer. Chanaa will als Stasi-Informant sowohl den DDR-Geheimdienst von Attentatsplänen unterrichtet als auch vor dem Anschlag auf „La Belle“ gewarnt haben. Seine Verteidigung hat deshalb beantragt, Chanaa wegen „Beihilfe“ zu verurteilen. Auch Musbah Abulgasem Eter will lediglich die Bauanleitung für den Sprengsatz geliefert haben.

Für Oberstaatsanwalt Detlev Mehlis haben sich die Vorwürfe des Staatsterrorismus gegen Libyen „zweifelsfrei bestätigt“. Heute nun muss der Vorsitzende Richter Peter Marholz entscheiden, wie er die teilweise widersprüchlichen Aussagen und die Beweislage für die Forderungen der Staatsanwaltschaft nach vier Mal lebenslanger Haft wertet. Er muss sich damit abfinden, dass weitere Hintermänner des Anschlags unerreichbar für die deutsche Justiz in Libyen vermutet werden. Und dass nach wie vor ungeklärt ist, inwieweit auch westliche Nachrichtendienste im Vorfeld über den Anschlag auf „La Belle“ informiert waren.