Eine Befreiung

DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP

Kein Wort im Papier der grünen Abweichler zu den Taliban-Verbrechen an Frauen und Mädchen

Am vergangenen Freitagabend, Deutschland lag im Fußballfieber, war also zum normalen Alltag zurückgekehrt, ging ich mit zwei Freundinnen aus Nürnberg auf den Hamburger Frauenball, außer uns taten dies noch rund zweitausend andere Frauen.

Ich hatte mir vorgenommen, beiseite zu lassen, was mir die Laune verderben konnte, und das ist zurzeit so ziemlich alles, denn alles dreht sich um das eine. Noch bevor ich mich in die Ballgarderobe warf, erreichte mich übers Radio eine neue antisemitische Hetztirade Bin Ladens („wir werden nicht eher . . . bis der letzte jüdische US-Soldat . . .“), und wie üblich bekannt gegeben und verkündet – ob im Radio oder in Zeitungen, Fernsehen habe ich vor Jahren abgeschafft –, ohne dass solche Äußerungen als antisemitisch und faschistisch benannt werden.

Ich war schwer damit beschäftigt, mich nicht über den latenten Antisemitismus deutscher Journalisten aufzuhalten. Mich erwartete der Anblick von zweitausend Frauen zwischen achtzehn und achtzig: geschminkt, geschmückt, dekolletiert, glitzernd, Mini, lang, hoch geschlitzt, und dazu die Partnerin im weißen Dinnerjacket oder im Frack mit Schwalbenschwänzen, gestärkter Hemdbrust und Fliege, viele Frauen lesbisch, doch keineswegs alle, und welche seit wann oder schon wieder oder nicht mehr oder etwas hetero und etwas lesbisch – Wichtigkeit! Sie alle genossen es, diese Nacht durchzutanzen, deren Stargast Gitte Haenning war.

Eine hinreißende Jazzsängerin! Die deutsche Schlagergemeinde hat sie damit nie hören wollen, und jetzt ist sie auf Europatournee. Ein attraktives charmantes Energiebündel von fünfundfünfzig Jahren, zu der metallisch kraftvollen wie schnurrenden Stimme formvollendete Tanzbeine auf hohen Pumps – sowie eine goldene Lorgnette, der sich die strubbelblonde Gitte, in pechschwarzen Strümpfen bis zum Hals, als Lesehilfe bediente. Denn manche Texte der Schlager, die sie doch noch singen musste, hatte sie vor zwanzig Jahren zuletzt gesungen, und sie waren obendrein für den Frauenball umgeschrieben, aus Lampenfieber war „Ich habe Schlampenfieber“ geworden, und selbstverständlich hieß es an diesem Abend: „Du bist die Frau, die ich lieb!“ Ovationen bestätigten das.

Der 16. Hamburger Frauenball stand unter dem Motto „Ich will Alles!“ Ja, ist es zu viel verlangt, wenn eine Frau das fordert? Und wie lange braucht sie, bis sie das zu fordern wagt, wie lange braucht eine Frau, auf diese Idee überhaupt zu kommen, und was, wenn sie unter einem Regime lebt, dessen Helfershelfer sie mit schwerem Kerker bestrafen, würde sie solche Forderung öffentlich äußern?

Als die Amerikaner im Juni 1944 in Frankreich landeten, um sich in den Krieg einzumischen, taten sie es nicht, um die europäische Judenheit zu schützen oder um die Juden zu retten, die noch nicht ermordet waren. Sie taten es, um möglicherweise zusammen mit Deutschland gegen die UdSSR und gegen den Kommunismus weiter Krieg zu führen. Aber das Eingreifen der US-Army und der Briten rettete vielen Juden das Leben, und die Deutschen wurden von außen vom Nationalsozialismus befreit, ob sie nun wollten oder nicht. Ihre Städte und Dörfer wurden bombardiert, viele Menschen starben, auch viele Frauen und Kinder.

In Afghanistan ist zurzeit von 1.600 Toten die Rede, vielleicht weniger Frauen und Kinder (sprich: Mädchen) als hier zu Lande stets nie versäumt wird, anzumerken, denn Frauen und Mädchen haben ja Ausgehverbot, sie werden demzufolge seltener auf Landminen treten und auf der Straße erschossen als Männer und Jungen, die wir auf Fotos ständig als „die Bevölkerung Afghanistans“ präsentiert bekommen. Frauen und Mädchen werden versehrt, verstümmelt, getötet von religionsfanatischen Männern ihres Landes.

Welche Demonstration, mehrheitlich angeführt von Frauen, gegen das faschistische Talibanregime, fand je vor einer Moschee in Deutschland statt? Weder vor einer Moschee noch sonstwo.

Acht Abgeordnete der Grünen werden wahrscheinlich im Bundestag gegen den Einsatz deutscher Soldaten in diesem Krieg stimmen. Unter diesen acht Abgeordneten sind fünf Frauen. Sie vertreten die Meinung, es handle sich bei dem Krieg gegen die Taliban „um ein Abenteuer, an dem sich niemand, auch nicht die Bundesrepublik, beteiligen sollte“.

Kein Krieg ist gut. Aber es gibt faschistische Regime, die anders als durch Krieg von außen nicht zu bekämpfen sind, da sich im Land keine Revolution aufbauen und kein Widerstand formieren kann oder will. Wie in Deutschland unter den Nationalsozialisten.

Fünfundvierzig Jahre später wäre es in der DDR nicht zu einem Aufstand gekommen, ohne den vorausgegangenen wirtschaftlichen Zusammenbruch der UdSSR, mitverursacht durch den damaligen Afghanistankrieg, und nicht ohne die teilweise bürgerkriegsähnlichen Zustände in osteuropäischen Ländern. Da sich die Ostdeutschen im Vergleich zu Polen und der Tschechoslowakei erst in letzter Minute auf die eigenen Beine machten, um gegen ihre Regierung zu demonstrieren, kann sich diese Revolution heute unblutig nennen.

Die fünf grünen Frauen und die drei grünen Männer monieren, die Taliban sollen gestürzt werden, „ohne dass es eine realistische politische Konzeption für eine Post-Taliban-Lösung gäbe“. In der Tat, man wird es in Afghanistan mit manchem bekannten politischen Verbrecher in der neuen Regierung zu tun haben.

Übers Radio erreichte mich die letzte antisemitische Hasstirade Bin Ladens, ohne dass sie so benannt wurde

Genauso wie in Deutschland. Nach der von außen mit kriegerischen Mitteln durchgesetzten Befreiung Deutschlands und Österreichs vom Nationalsozialismus war allen klar, dass sich am Aufbau der jungen Demokratien viele alte Nazis beteiligten und selbstverständlich in besten Positionen zur persönlichen Bereicherung. Eine Auslieferung Bin Ladens würde das faschistische Regime in Afghanistan nicht ablösen. Der menschenverachtende, sadistische Terror, dem besonders alle Frauen und Mädchen durch die Taliban und ihre Religionspolizei ausgesetzt sind, würde erhalten bleiben.

Kein Wort in diesem Papier der acht Grünen, so weit es in der taz zitiert wurde, zu den Verbrechen, die an Frauen und Mädchen verübt werden. Dafür aber wird seit Tagen in Deutschland darüber nachgedacht und dafür plädiert, während des Ramadan oder zu Beginn des Ramadan oder am Ende des Ramadan den Krieg zu unterbrechen. Kriegserfahrene sprechen von Gefechtspause, auf die habe man Weihnachten 1945 auch gehofft.

Wer die Deportationsdaten im Kalender zurückverfolgt, wird feststellen, dass auffallend oft an jüdischen Feiertagen deportiert wurde, besonders freitags gegen Abend, zum Beginn des Schabbat.

Ob die Empfindlichkeit in Deutschland gegenüber dem Ramadan von dort herrührt? Wohl nicht. Auch scheint die muslimische Welt das völlig anders zu sehen. Ägypten griff Israel 1973 zum Jom Kippur an, dem jüdischen Versöhnungsfest. Es war übrigens der Monat des Ramadan.