Der Kanzler will es wissen

Gerhard Schröder verbindet die Afghanistan-Abstimmung mit der Vertrauensfrage im Parlament – ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik

von SEVERIN WEILAND
und MATTHIAS URBACH

Es war der Tag des Gerhard Schröder. Der Kanzler überraschte sie alle – die Medien, seine eigene Partei, aber vor allem seinen kleineren Koalitionspartner. Noch am Morgen hatten viele Grüne geglaubt, der Kanzler werde sich damit zufrieden geben, im Bundestag keine eigene Mehrheit für den Beschluss zur Militärhilfe zu bekommen.

Am Nachmittag wussten sie dann, dass es Schröder ernst meinte: Bevor er wortlos und mit verschlossener Miene zur Grünensitzung hinüberwechselte, hatte er in seiner eigenen Fraktion angekündigt, am Freitag die Vertrauensfrage mit der Zustimmung zur Militärhilfe zu verknüpfen – ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Schröder wusste aber auch um den Seelenzustand seiner SPD: Sollte die Koalition die Vertrauensfrage gewinnen, versicherte der Kanzler, dann sei „Rot-Grün eine Option über 2002 hinaus“. Nach seiner Rede standen die Abgeordneten der SPD auf und applaudierten zwei Minuten lang. Hermann Scheer vom linken Flügel meinte nach der Sitzung, die Vertrauensfrage hebe die Entscheidung des Einzelnen auf eine „prinzipiellere Ebene“. Man müsse sich nunmehr „die Sinnhaftigkeit der rot-grünen Koalition gegenwärtigen – und ich halte sie für sinnhaftig“.

Wohl an kaum einem Tag verknüpften sich innen- und außenpolitische Ereignisse so eng wie am gestrigen 13. November. Am Morgen hatten die Abgeordneten in den Frühnachrichten von der Flucht der Taliban aus Kabul erfahren. Im Verlauf des Vormittags wurde vielen in der rot-grünen Koalition klar, dass dem Fall von Kabul bald der Fall der rot-grünen Koalition folgen könnte. Stunde für Stunde sickerte durch, was Schröder am Abend zuvor im Kreise von 70 Abgeordneten der SPD-Linken im Kanzleramt angedeutet hatte: Dass er die Vertrauensfrage stellen könnte, sollte er keine Mehrheit erhalten. Zudem holte sich Schröder Rat bei zwei Altvorderen: Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel.

Man sei „überrascht“ worden vom Tempo des Kanzlers, gestand Werner Schulz ein, ein Vertreter des Realo-Flügels bei den Grünen. Von „Erpressung“ sprach Winfried Hermann, ein Einsatzgegner. Vielen in der Partei dämmerte: Sie könnten sich schon bald auf den Oppositionsbänken wiederfinden – mit unabsehbaren Folgen für das Gesamtgefüge der Grünen, möglicherweise mit dem Rückzug ihres Spitzenmannes Joschka Fischer. Ersatz in Gestalt Guido Westerwelles und der FDP steht bereit.

Vor den Sitzungssälen der Regierungsfraktionen sah man viele ernste Gesichter – die Verantwortung über den Militärbeschluß lastete plötzlich alleine auf ihren Schultern. Bei einer Verknüpfung mit der Vertrauensfrage, so hatten Union und FDP erklärt, würden ihre Parteien dann doch mit Nein stimmen. Sollte Schröder scheitern, habe er zwei Chancen, so Westerwelle: Neuwahlen anzustreben oder sich um eine neue Mehrheit bemühen.

Von den acht Grünen, die noch am Wochenende ihr Nein begründet und den Machtkampf mit Schröder eröffnet hatten, schienen manche zu wanken. Drei, vielleicht mehr, so hieß es, könnten weich werden. Das würde Schröder reichen, wenn die SPD-Fraktion geschlossen bliebe.

Hatte der Kanzler, gehetzt durch die Ereignisse, zum letzten Mittel greifen müssen? Dafür spricht einiges: Vergangene Woche schien es, als könne er mit der Zuhilfenahme von Union und FDP beim Militärbeschluss leben. Doch dann, ohne sich selbst zu Wort zu melden, hatte Schröder in den vergangenen 48 Stunden streuen lassen, die Abstimmung über die Militärhilfe könne nicht ohne Konsequenzen bleiben. Zunächst im Parteivorstand, dann am Montag abend vor der SPD-Linken. Dort hatte er auch eine Umfrage zitiert, nach der 56 Prozent der Bevölkerung Neuwahlen wollten. „Der meint es diesmal wirklich ernst“, so ein Teilnehmer.

Schröder blickte an diesem Abend über den Abstimmungstag hinaus und erinnerte an den kommenden Grünenparteitag: Wenn dort ein Nein erfolge, könne man ja nicht so tun, als sei nichts gewesen. Auf Bitten einiger Abgeordneter, den Grünen eine Chance zu lassen, soll Schröder mit Schweigen reagiert haben. Auch das war eine Antwort.