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Statistik und Schrubben

Teil IV der Serie „Provos, Pauker, Pädagogen“: Die offene Jugendarbeit erstickt zwischen Hausarbeit, Cola-Verkauf und zeitraubenden Evaluationen. Eine Alternative sind selbst verwaltete Projekte

von HOLGER KLEMM

Der Sozialarbeiter schiebt sich seinen Kaffee zurecht und setzt sich an den Rechner, um den Jahresbericht für den Jugendhilfeausschuss zu schreiben. Was war gleich noch mal los in den letzten Wochen? Ach ja, Kevins Fahrrad musste repariert werden: „Fahrradwerkstatt. Projektarbeit zur Steigerung der Mobilität motorsportlich benachteiligter Jugendlicher im Kiez unter besonderer Berücksichtigung der Vermittlung technischer Zusammenhänge.“ Was macht Kevin derweil? Er steht hinter der Hecke und kifft oder prügelt sich mit Hans – keiner weiß es.

Jugendclubs und Jugendfreizeitheime sind denkbar knapp ausgestattet. Ein großer Teil der Mitarbeiter rekrutiert sich aus ABM und anderen geförderten Maßnahmen, und je weiter man nach Osten kommt, desto dürftiger wird die Zahl derer, die ein sozialpädagogisches Studium haben. Neben dem Trend der knapperen Ausstattung steigen zugleich die Anforderungen. Qualitätsmanagement schwappte als Zeitfresser in den vergangenen Jahren immer stärker in die Einrichtungen. Nicht, dass eine vergleichende Einschätzung der Arbeit nicht notwendig wäre. Viele der wenigen in der offenen Jugendarbeit verbliebenen Sozialarbeiter fühlen sich per se so unabkömmlich, dass sie keine Notwendigkeit sehen, ihre Arbeitsweise zu überprüfen. Aber die in den Bezirken verabschiedeten Qualitätskriterien fesseln die Mitarbeiter für viele Stunden im Monat an den Schreibtisch.

In diesem Jahr sind die Fusionsbezirke vollauf damit beschäftigt, ihre unterschiedlichen Check-ups anzugleichen. In Köpenick zum Beispiel hatten sich qualitative Verfahren durchgesetzt; die Leiter der Jugendhäuser beschrieben in offener Form ihre Arbeit. In der Bezirksbraut Treptow dagegen grassierte in quantitativer Messung die blanke Zahl. Soweit es jetzt, nach knapp einem Jahr Hochzeit absehbar ist, wird sich ein hoch kompliziertes Punktesystem durchsetzen. Aus einer der jeweilige Formel von inhaltlicher Arbeit, Bedarf im Kiez, Umfragen unter Jugendlichen und der Einschätzung von Politikern errechnet sich, ob und wie stark ein Club gefördert wird.

Anderswo kamen Prüfer vom Jugendamt einmal im Jahr unangemeldet in die Häuser, zählten Mitarbeiter und Kids und vergaben daraufhin das Kennzeichen A (sehr förderungswürdig), B oder C (nicht förderungswürdig). Nun tauchten die ABC-Schützen aber auch in den Sommerferien auf, wo die meisten Halbstarken mit Mami und Papi irgendwo am Strand liegen. In einem Chemnitzer Jugendhaus ergab die Stichprobe zwei Billard spielende Kids und zwei Mitarbeiter: der Daumen ging nach unten.

Was wirklich passiert in den Jugendhäusern, lässt sich nicht errechnen. Je umfassender die Bezirke Berichte und Statistiken anfordern, desto besser müssten sie die Häuser mit qualifizierten Mitarbeitern ausstatten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Im Großbezirk Pankow konnte der Jugendhilfeausschuss für dieses Jahr rund drei Millionen Euro für die offene Kinder- und Jugendarbeit verteilen; im kommenden Jahr werden es nur 1,5 Millionen Euro sein. Gewiss ist, dass es wieder einen Aufschrei der freien Träger geben wird. Ebenso gewiss ist, dass nicht jede zweite Einrichtung geschlossen wird, so leicht man das auch rechnerisch ableiten könnte. Das heißt wieder: Viel reden, diskutieren, verhandeln, konzipieren, eruieren, evaluieren – das Vokabular der helfenden Berufe ist in dieser Hinsicht unerschöpflich.

Was flächendeckend in Berlin fehlt, sind neue Konzepte, die dem Finanzdesaster Rechnung tragen. Wenn die Herren und Damen der Jugendhäuser die meiste Zeit mit dem Verkauf von Brötchen und Cola sowie mit Saubermachen beschäftigt sind – was keine Ausnahme ist –, dann braucht es keine Qualitätsstatistiken, dann ist klar, dass man hier nicht von pädagogischer Arbeit sprechen kann.

Wo Jugendliche viel intensiver lernen, was Verantwortung und Einsatz und Zusammenarbeit bedeuten und was zugleich eine finanzielle Alternative für die gebeutelten Bezirke darstellt, sind von den Heranwachsenden selbstständig verwaltete Häuser, die von Streetworkern lose kontaktiert werden. Positive Beispiele dafür gibt es. Die „Bude“ im Köpenicker Allende-Viertel ist eines dieser Projekte. Selbstorganisiert begannen begeistere BMX-Fahrer mit dem Bau einer Crossstrecke auf der ungenutzten Fläche eines ehemaligen Schulgartens. Nach viel Schweiß kam auch der Stolz über das geschaffte. Keiner delegiert das Saubermachen an einen Erwachsenen.

Selbstständig verwaltete Jugendprojekte sind kein Sparwut-Freibrief für Politiker, sie sind von außen betrachtet chaotischer und nicht in jedem Fall eine gleichwertige Alternative für herkömmliche Jugendeinrichtungen. Aber sie bieten die Gewähr, dass neben Schule und Familie der „dritte Ort“, der offene Raum des Treffs mit Gleichen, erhalten bleibt.

Aus dem Chemnitzer Club gingen übrigens drei Sachsenmeister im Billard hervor, eine Jugendliche wurde erster ostdeutscher Meister im Poolbillard und bei der Europameisterschaft erreichte sie den sechsten Platz. Aber dafür gibt es in der Statistik des Jugendamtes keine Rubrik.

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