Hungrig nach Musik

Nach dem Vormarsch der Nordallianz entstehen in Afghanistan überall kleine Radiosender und senden unter den Taliban verbotene Klänge

von ROLAND HOFWILER

Indische Schlager, pakistanische Popsongs, arabische Rhythmen: Afghanistan atmet auf. In Kabul, Masar-i Scharif und Herat, überall sprießen neue Radiostationen aus dem Boden, wie Pilze nach dem Regen. Kleine Sender meist, mit schwacher Sendeleistung. Die Propagandastimme der Taliban dagegen, „Radio Scharia“, ist verstummt.

Mit einem Schlag hat sich das Blatt im Medienkrieg gedreht: Beherrschten bislang die Taliban den Äther, so gibt nun die Nordallianz den Ton an. „Radio Balkh“ nennt sich ihr neuer Mittelwellensender, der seit Sonntag auf der alten Frequenz von „Radio Scharia“ (1548 kHz) frischen Wind in die archaische Medienstruktur Afghanistans bringen will. Nach eigenen Angaben geht es den Radiomachern aus der Provinz Balkh um „frische Ideen und Bildung für alle“, um ein Ende des Verbots von Unterhaltungsmusik und des Ausschlusses der Mädchen aus dem Schulunterricht. Bis zum Aufbau eines landesweiten Radio- und Fernsehnetzes unter dem Namen „Radio-TV-Afghanistan“ soll „Radio Balkh“ in den kommenden Monaten die Funktion einer „Volksbildungsinstitution“ übernehmen.

Denn im Land der Taliban gab es kein Fernsehen, keine UKW-Sender und schon gar kein Internet. Mit ihrem Machtantritt 1996 verboten die Fundamentalisten jedes Unterhaltungsmedium als „Quelle der moralischen Zersetzung“. Selbst die Ausstrahlung von Volksmusik blieb verpönt, das Programm auf Nachrichten und religiöse Beiträge beschränkt. Die Taliban erklärten stolz, „Scharia“ sei der einzige Sender in der Welt, der auf „schändliche Musik“ verzichte.

Mit Beginn des US-Luftkrieges verstummte zwar am 8. Oktober der Taliban-Rundfunk in der Hauptstadt Kabul und in den meisten anderen Städten Afghanistans, doch in Masar-i Scharif gelang es den Fanatikern, allen Bombenangriffen zum Trotz, täglich auf Sendung zu gehen. Die Verbände der Nordallianz waren zur gleichen Zeit nicht einmal im Stande, auch nur einen einzigen Frontsender in Betrieb zu halten, geschweige denn aus ihrer Hochburg Fayzabad ein Vollprogramm auszustrahlen.

Große Schwierigkeiten

Auch jetzt kämpft die Nordallianz mit großen Schwierigkeiten. An technischer Ausrüstung ist kein Mangel, arabische Radioamateure und westliche Menschenrechtsgruppen wie Droit de Parole haben schon in der Vergangenheit der Nordallianz unter die Arme gegriffen.

Doch Unstimmigkeiten innerhalb der einzelnen Fraktionen, Streit über die politische Linie, Inhalt und Dauer der Sendungen, verhinderten ein abwechslungsreiches Programm. Auch in welchen Sprachen des Vielvölkerreiches gesendet werden sollte, führt immer wieder zu Disput. So einigte man sich erst einmal darauf, das Programm mit fremdsprachigen Schlagern, Popsongs und Rhythmen zu füllen – für die musikhungrigen Menschen ein Freudenschrei.

Doch wer sich derzeit in Afghanistan wirklich politisch informieren will, der muss seinen Kurzwellensender auf die Frequenz 11675 drehen, auf „Radio Maschhad“, die „Afghanistanstimme“ des iranischen Staatsrundfunks. Der iranische Multi-Sprachen-Sender verdankt seine Popularität zwei Faktoren: Zum einen verloren die westlichen Radiostationen wie Voice of America, die BBC und auch die Deutsche Welle, seit Beginn der nächtlichen Bombenangriffe bei den Afghanen enorm an Glaubwürdigkeit, zum anderen genießt „Radio Maschhad“ gewisse Freiheiten, die iranischen Medien ansonsten verwehrt wird. Deren Redakteure recherchieren in alle Richtungen, übernehmen von der BBC oder von Voice of America, was sie für wichtig halten, bedienen sich des umfangreichen Materials aus der islamischen Welt und haben – unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – eigene Teams in allen größeren Städten Afghanistans, bei der Nordallianz und bei den Taliban. „Radio Maschhad“ hatte die Freiheit, aus einer Studie des Nachrichtendienstes der US-Wirtschaft „Stratfor“ zu zitieren, wonach der fast panikhafte Rückzug der Taliban und die Flucht vor der Nordallianz nur eine Taktik der Gotteskrieger sei, vorerst das Feld zu räumen, um sich im Frühjahr mit einem Guerilla-Kampf zurückzumelden.

In den Afghanistan-Redaktionen der westlichen Sender sind solche Gedankenspiele meist tabu und den Redakteuren bei der eigenen Recherche die Hände gebunden. Sie müssen politisch auf Linie bleiben und es mit dem Übersetzen und Bearbeiten von Beiträgen aus dem heimischen Sendepool belassen. Ein schweres Unterfangen, die „Friedensappelle“ westlicher Politiker kommentarlos zu übertragen und die bisherigen Bombennächte vor den afghanischen Hörern als „traurige Notwendigkeit“ zu rechtfertigen. Dieses Dilemma erklärt auch, warum die Amerikaner noch immer zögern, ein „Radio Free Afghanistan“ aus der Taufe zu heben, ein Sender im Stil des einstigen „Radio Free Europe“. In Washington ist man sich noch unschlüssig, ob eine eigene US-Radiostation für Afghanistan sinnvoll wäre oder ob man sich besser am Aufbau von „Radio-TV-Afghanistan“ beteiligen sollte. Doch die Amerikaner misstrauen auch der Nordallianz und wissen sehr wohl, mit der Ausstrahlung indischer Schlager ist der Medienkrieg gegen die Taliban allein nicht zu gewinnen.