Nie wieder Weltmeister

von PETER UNFRIED

Erinnert sich noch einer an das letzte große Bild vom deutschen Fußball? Ach Gottchen, nein: nicht Michael Ballack am Mittwoch in Dortmund nach seinem zweiten Treffer beim 4:1 gegen die Ukraine. Es zeigt den Stürmer Jürgen Klinsmann. Wie er mit irren Augen den Triumph herausbrüllt: Ja, ja, ja, Deutschland. Das waren noch Zeiten. Der letzte große Sieg des deutschen Fußballs. Über Mexiko. Im Achtelfinale der WM 1998. Mexiko? Achtelfinale? Ein richtig großer WM-Sieg war das ja wohl auch nicht. Nun ja. Zumindest war es der letzte. Besser wird es auf Jahre hinaus nicht mehr gehen.

Warum wird es nichts mehr? Der DFB ist für die WM qualifiziert. Draußen auf den Straßen singen die Menschen „Rudi, Rudi, Rallala!“ (Bild). Trotzdem: bevor jetzt jemand ernsthaft Lebenszeit bis zum Ende der WM-Vorrunde Mitte Juni mit der Frage vergeudet: nein. Der deutsche Verbandsfußball wird nie mehr sein, was er einmal war – Weltmeister.

Ach menno, warum denn nicht? Der Deutsche war doch früher auch nicht fußballerisch besser als die ganze Welt, aber er kämpfte natürlich besser. Ergebnis: WM-Titel 1954 und 1974 für die Bundesrepublik gegen jeweils „bessere“ Ungarn bzw. Niederländer, und 1990 für das wiedervereinigte, aber noch ostfreie Team. Das simple Erklärungsmuster heißt daher: „Auf die deutschen Tugenden besinnen.“ Das hat DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder tatsächlich in seiner „Rede“ an die Nationalspieler vom 10. November diesen Jahres programmatisch postuliert.

Mayer-Vorfelder ist wie Vogts und viele andere ein Mann der Kohl-Jahre, also von vorgestern. Nur: Er ist immer noch da. Er hat das beste Sitzfleisch von allen bewiesen. Man sollte diese erstaunliche persönliche Lebensleistung ernst nehmen: als Programm.

Am Mittwochabend hat er das in einem Fernsehauftritt noch einmal als seine zentrale Botschaft herausgearbeitet: 1. Ich bin DFB-Präsident. 2. Das freut mich. 3. Die Spieler sollen für Deutschland kämpfen, dann wird’s schon werden. Leider steht er gerade nach dem 4:1 gegen die Ukraine nicht allein mit dieser Analyse. Das alles eine Frage des „Nationalstolzes“ sei, hat auch Rainer Holzschuh, Chefredakteur des Zentralorgans kicker, diese Woche beschworen. Hipp, hipp, hurra, man ahnt es: Die letzten werden noch im Geiste des ersten Nachkriegs-DFB-Präsidenten Peco Bauwens den Endsieg beschwören, wenn über Berlin die Fußballflagge Dänemarks hängt oder die des Senegal. Natürlich funktioniert der globale Markt „Wettbewerbe von Verbandsfußballteams“ immer noch über nationale Identitäten der Konsumenten.

Erfolge im Weltfußball sind freilich nicht (mehr) Folge nationaler Qualitäten, sondern im besten Falle ihrer Verknüpfung mit globalem Knowhow. Weil man das früh genug erkennen musste, ist Frankreich heute Welt- und Europameister. Weil man das spät, aber immerhin einsah, ist England seit der Berufung des Schweden Sven-Göran Eriksson einen großen Schritt vorwärtsgekommen.

Es ist doch alles ganz einfach im Fußball: Die Qualität des Spiels ergibt sich aus der Qualität der Spieler und der Qualität der Organisation. Ohne moderne Organisation auf dem Spielfeld gibt es auch keinen qualifizierten Kampf – was der DFB als Allerletzter bei der EM 2000 bemerken musste: Der Abstand des deutschen Fußballs von der Weltspitze wird definiert durch Mängel in Organisation und Personal. Und zwar auf dem Spielfeld (Spieler) und daneben (Verbandsfunktionäre). Und durch die verlorene Zeit. „Jugendförderung, Talentsichtung, Trainerausbildung – der DFB hat alles verschlafen, was der Entwicklung dieses Sports zuträglich gewesen wäre“, kläffte diesen Mittwoch selbst die Welt. Natürlich hat es nicht wirklich eine sorgfältig geplante Verschwörung zur Vernichtung des deutschen Verbandsfußballs gegeben. Es war einfach so, dass seit Jahren der Klüngel aus Altfunktionären und mächtigen Klubvertretern (Bayern, Leverkusen) mit ausgeprägten Eigeninteressen zusammenkam. Und kein einziger Mann von Format dabei war – oder in einer Position, den Befreiungsschlag zu wagen. So hat man die Jahre von 1998 bis 2000 weggeschmissen. Das ist deshalb umso schlimmer, da man schon die 90er-Jahre durchhing, im Glauben an die ewige Kraft der deutschen Tugend. Das kann man nicht in einem Jahr aufholen.

Realpolitisch betrachtet ist es nicht verboten zu sagen, der derzeitige Teamchef Rudi Völler mache einiges aus den Möglichkeiten (obwohl er Teil des Klüngels ist oder gerade deshalb). Dabei geht man davon aus, dass unter den real existierenden Verhältnissen grundsätzlichere Änderungen nicht möglich oder zumindest nicht wahrscheinlich sind. Oder es sie nicht gibt. Okay, es ist weltfremd. Okay, es steht erst nach dem WM-Ausscheiden wieder an. Aber man kann ja wohl mal fünfe grade sein lassen und zwei Varianten trotzdem jetzt denken.

1. Die konservative Variante: Der FC Bayern, einziges Fußballunternehmen des Landes mit Weltnivau, übernimmt, um Beckenbauers WM 2006 willen. Personal: Stoiber DFB-Präsident, Rummenigge DFB-Generalmanager, Hitzfeld DFB-Trainer. Prinzip: Übernahme von Knowhow und Macht der Bayern unter Beibehaltung der wertkonservativen Grundhaltung und Berücksichtigung der Interessen aller DFB- und WM-Geschäftspartner (Kirch, Springer, Adidas usw.) Ergebnis: Erfolg um jeden Preis. Aber: Warum sollte sich der FC Bayern selbst Konkurrenz machen? Er ist bekanntlich sowieso der FC Deutschland. Und: Nicht einmal Stoiber kann gleichzeitig Deutschland und Bayern managen.

2. Die revolutionäre Variante: Ein „Fremder“ wird Bundestrainer. Der Fremde ist ein Weltklassetrainer auf der Höhe des Fußballs. Er kann Arsene Wenger (FC Arsenal) oder auch Volker Finke (SC Freiburg) heißen. Ergebnis:Auf keinen Fall „linker“ Fußball, den gibt es nicht. Auch nicht „schöner“, das sind alles Schimären. Nein: Herauskommen sollte guter, sauberer Spaß durch guten, modernen Kurzpassfußball, der nicht nur gegen die löchrige Ukraine funktioniert, sondern auch in der qualvollen Enge eines Spielfeldes, auf dem gegenüber ein Weltklasseteam arbeitet. Aber: Genug jetzt. Aufwachen!!! Weder Wenger oder gar Finke würden morgen oder übermorgen den Job übernehmen können, dürfen oder auch nur wollen. Und Mayer-Vorfelder denkt natürlich nicht daran, ohne oder trotz Not aufzuhören. Er denkt an die WM 2006. Bis dahin muss es weiterlaufen. Wird schon. Irgendwie.

Also: Was also kann der Verbraucher, der Bürger, der Sympathisierende tun? Er kann sich mental auf das Kommende einrichten. Der Deutsche hat zwar den Erfolg des Teams gerne als seinen eigenen ausgegeben. Aber das hindert ihn jetzt nicht, die Verknüpfung von nationalem Selbstverständnis mit dem Verbandsfußball zu reduzieren. Das ist erstens überfällig, zweitens pragmatisch, drittens klug. Und dann muss er mit dem leben, was da ist. Im Vergleich zu den Vorgängern ist das Trainergespann Völler und Michael Skibbe ja ein Fortschritt. Der Medienbedarf wird passabel erledigt. Die Spieler schöpfen ihre Möglichkeiten besser aus, es gibt ein System (wenn auch nicht wie in Frankreich), die Hierarchien sind flacher und damit moderner geworden. Es wird wieder ein bisserl an den Nachwuchs gedacht (wenn auch nicht wie in Frankreich). Die Klubs der Bundesliga sind näher an den DFB gerückt. Im Vergleich zu früher und zur Weltspitze fehlt es seit 1998 an außergewöhnlich guten Spielern im Feld, die international – wenn es gilt – nicht nur theoretisch (Scholl, Ballack) oder perspektivisch (Deisler), sondern tatsächlich den Unterschied machen. Damit kann man mal die Ukraine aufhalten, aber auch mal 1:5 gegen England verlieren.

Also, liebe Fußballfreunde: Der gemeine Deutsche muss und kann ohne einen weiteren WM-Titel leben. Selbst ein frühes Ende bei der WM wirkt sich allenfalls nachteilig auf den nationalen Fußballmarkt aus – und das auch nur „mittelbar“ (Ligachef Hackmann). Halten wir es mit Franz Beckenbauer, „sind wir zufrieden, sind wir froh“, dass der DFB dabei ist, falls uns das den Einstieg in ein großes Fußball-Spektakel einfacher macht. Oder den Ärger über die nächste Gebührenerhöhung von ARD und ZDF etwas erträglicher.

Und wer weiß: Wenn alles optimal läuft, kann das deutsche Team das Achtelfinale erreichen. Sagen wir: gegen China. Und dann war Mexiko 1998 doch nicht das Ende. Dann ist ein neuer großer Sieg des deutschen Fußballs möglich. Das Viertelfinale. Aber jetzt bitte nicht abheben: Da muss schon alles passen.