Der Klang des Ziels

Lutz ist blind. Und er sitzt im Rollstuhl. Fürs Tanzen im Verein gilt er damit als nicht geeignet. Im Schießen allerdings ist Lutz unschlagbar

von ELISABETH WAGNER

Lutz ist blind. Wie Heiner. Nur dass Heiner laufen kann und Lutz nicht. Vereinswirtin Uschi hat ihm die belegten Brote auf einen Teller gelegt. Lutz schluckt vorsichtig. An der Narbe in seinem Hals verfängt sich das Essen allzu leicht. Für heute Abend hat Uschi Schweineschmalz und Wurst besorgt, dazu Gurke. Die Heizung ist aus. Es ist dunkel. „Ich friere“, ruft Marion und kaut gegen die Kälte. Drei, vier Brote sind schnell verzehrt. Uschi zieht stumm an ihrer Zigarette, bläst den Rauch über die Stapel von Graubrot. Sie wittert noch jede Form der Kritik. Alkohol trinkt in dieser Runde niemand. Das wäre unsportlich. „Dit is Nervengift“, sagt Lutz. Helmut, Uschis Mann, seufzt und rollt die Augen. Als erster Vorsitzender muss er den Anfang machen. Dabei ist es hoffnungslos. Das Training wird ihm nicht helfen. Lutz, der Blinde im Rollstuhl, bleibt von allen der beste Schütze.

Es geschah auf dem Weg zur Arbeit. Lutz Zangenberg war siebzehn Jahre, er lernte Tankwart und wollte später Kfz-Mechaniker werden. Er war ein großer Junge und liebte Sport und belegte Brötchen. Lutz fuhr auf einem Mokick mit vierzig Kilometer Höchstgeschwindigkeit durch Berlin. Die Ampel zeigte Grün. Lutz dachte, der Lkw würde fahren. Was nicht der Fall war. An der Unfallstelle musste der Notarzt Lutz mit einem Luftröhrenschnitt vor dem Ersticken retten. Im Krankenhaus öffneten sie die Schädeldecke. Im Gehirn hatte sich ein gewaltiger Bluterguss gebildet und drückte auf das umgebende Gewebe. Während der Operation rutschte Lutz dann ins Koma ab. Dort blieb er ein Jahr.

„Ausgeschlossen“, sagt Vater Gerd, „da kommt keiner ran.“ Als Sportwart des 1. Blindenschützenvereins Berlin-Spandau e.V. hat er die Leistung seines Sohnes bereits einschlägig klassifiziert: „Weltrekord, alles andere ist Quatsch.“ Geschossen hat Lutz seine persönliche Bestleistung bei einer Meisterschaft in Wilhelmshaven, im Jahr 1993. Erster Deutschlandpokal nannten die veranstaltenden Vereine Spandau und Wilhelmshaven Nord-West es in eigener Regie. Schützen aus den Niederlanden und Frankreich waren angereist. Als der Berliner Sportwart am Schluss die Ringe zusammenzählte, hatte er Vergleichbares noch nie gesehen. Von 220 möglichen hatte Lutz 218,4 Ringe erreicht.

Knappe sechs Kilo schwer, Griff und Lauf mit hellem Holz verkleidet. „Hier, Lutze“, sagt der Vater und reicht dem Sohn das Gewehr. „Danke schön“, erwidert Lutz. Er neigt den Kopf zur Seite, als könne ihm der schlanke Körper der Waffe etwas zuflüstern und er es womöglich überhören. Am Schießstand trägt Lutz wie immer seine schwarze Lederjacke und Kopfhörer. Auf dem Gewehrlauf sitzt die Optronik, ein Apparat, der Licht in Töne verwandelt und Lutz mit seinem hellsten Ton hören lässt, dass er die Zehn im Visier hat. Der innerste Zirkel der Schießscheibe ist weiß. Seinen linken Arm muss der Meisterschütze ausschütteln. Dieser Arm ist seine Schwachstelle. Um ihn zu entlasten, liegt der Gewehrlauf in einer Schlinge, die achtzig Zentimeter von der Decke hängt. Mit kleinen, schnellen Bewegungen der rechten Schulter bringt Lutz die Waffe in Anschlag. Die Optronik antwortet mit Pfeifen. Lutz lässt den Ton zum Aufwärmen tanzen. Er lauscht in das Universum der Präzision, hört auf den eigenen Schuss. Atmen, zielen, atmen, schießen, treffen. In seinem Kopf bildet das eine Einheit. Ein Feind existiert dort nicht, nur die Idee und der Wunsch, für diesmal alle Konzentration in einem Punkt zu bündeln. Sein Vater, sagt Lutz, freue sich über die guten Leistungen. Der Vater ist stolz auf seinen blinden Sohn im Rollstuhl. Die Hände des Sohnes sehen weich aus, am Abzug der Waffe.

Die Wirbelsäule war intakt, die Nervenbahnen leitungsfähig. Erst im Krankenhaus kam für Lutz zur Blindheit der Rollstuhl hinzu. „Da ham se mir verpfuscht.“ Weil Schwestern und Ärzte vergaßen, seine Arme und Beine zu bewegen. Den jungen, hochgewachsenen Körper einmal täglich im Bett aufzusetzen. Als Lutz nach einem Jahr aufwachte, hatten sich Sehnen und Muskeln verkürzt, so sehr, dass er nie wieder würde laufen können. „Wat soll’s“, sagt Lutz. Später haben die Ärzte Lutz ein Stück künstliche Schädelplatte eingesetzt. „Marita“ steht auf der Platte. Die Mutter konnte es lesen, als man ihr eine Röntgenaufnahme vom Kopf ihres Sohnes zeigte.

Das lange Liegen hatte Löcher bis auf die Knochen gegraben. Das Fleisch faulte, die Fäulnis sickerte in den Körper zurück, wurde giftig. Sie sollten ihren Sohn mit nach Hause nehmen, empfahlen die Ärzte. Ob er hier oder zu Hause sterbe, sei doch egal. „Dit ham wer schriftlich“, sagt der Vater, der Angst hatte, seinen Sohn auch nur anzufassen. 43 Kilo wog Lutz, und wenn jemand durchs Zimmer ging, schrie er vor Schmerzen laut auf. Weil er nicht sprechen, sich auf keine andere Art mehr wehren konnte, hat er nach den Menschen gebissen. Eine alte Chirurgin, die in den Lazaretten des Krieges viel gesehen hatte, riet von nahezu sämtlichen der über 53 Medikamentensorten ab. „Nimm Zucker“, lautete ihr Rat. Fortan schüttete die Mutter Lutz kiloweise Haushaltszucker von Aldi in die „Stellen“. Das Gift konnte granulieren und die Mutter den schwarz gewordenen Zucker zweimal täglich wieder abtragen. So kam es, dass Lutz überlebte.

Im Training schießt er jetzt immer neben Heiner, den seine Frau verlassen hat und der sich um die Kinder kümmert. Zwei Plätze weiter zielt Marion in ihrem Rollstuhl. Auch sie trägt Leder. Nichts stabilisiert den Körper besser. Nach den Leberwurstbroten hält Marion nun ein Gewehr im Anschlag. Sie schießt gut. Obwohl sie lieber Basketball spielt. Acht von neun Pokalen haben sie in Wilhelmshaven gewonnen. „Mit Bravour“, sagt Lutz und zeigt seine Genugtuung, aber nur kurz. Die anderen Mannschaften hätten schnell die Lust verloren. „Mit euch spielen wir nicht mehr“, sagten sie zu den blinden Männern aus Berlin.

Zu den Deutschen Meisterschaften nach München könnte Lutz als erster der Landesmeisterschaften selbstverständlich fahren. Vorausgesetzt, die Spandauer wären noch Mitglied im Deutschen Behindertensportverband und hätten nicht nach dem Besuch des Verbandsarztes Dr. Hans Brunner im Jahr 1999 beschlossen, dem nationalen und internationalen Wettbewerb den Rücken zu kehren. Brunner war aus Bayern angereist und kam zu einem unbequemen Ergebnis. Verschiedene Schützen, darunter die vereinsbeste Schützin Marion, erklärte der Arzt für fähig, frei und ohne Hilfsmittel zu schießen. Lutz dagegen hatte bei der Musterung keinerlei Probleme. Blind und gelähmt, da gab es kein Vertun.

Für Lutz, sagt sein Vater, würde sich München nicht lohnen. Als Schütze der Schadensklasse 3 wäre er dort gezwungen, sein Sportgerät auf einen festgeschraubten Federbock zu legen. Das sei kein Schießen, sagt der Sportwart, sondern „Dreck“. Und dann das Geld. Das Hotel für zwei Begleiter plus ein extra Schießtisch plus neue Optronik. Die Kosten würden somit in die Tausende gehen. „Macht nischt“, sagt Lutz. „Bleib’ ick eben zu Hause.“

Angefangen hatte seine Rückkehr in die Welt mit einer Musiksendung im ZDF. Nach drei Jahren „Einzelhaft“ saß die Mutter mit ihrem Sohn vor dem Fernseher, als Lutz die Musik plötzlich in die Glieder fuhr. Was der Rollstuhl in diesem Augenblick an Bewegungsfreiheit hergab – Lutz nutzte es aus. Er schaukelte seinen Körper hin und her. Die Mutter erkannte das Signal. Mit ihr hat Lutz ohnehin den meisten Spaß. Sie teilen den Humor. Wenn Lutz zwischendurch traurig ist, spricht er seiner Seele ermunternd zu. „Sei lieb“, empfiehlt er seiner Seele, „denk vernünftig.“ Und wenn der Vater schimpft : „Du weeßt ja, der Mensch hat zwee Ohren.“

Die Mutter versuchte für den Sohn eine Möglichkeit zum Tanzen aufzutreiben. Vergeblich. Rollstuhlfahrer dürfen nicht blind sein, wollen sie für Formationstanzen und Vereinsleben brauchbar sein. Die Mutter fand für Lutz etwas anderes. Eine Veranstaltung im Gemeinderaum einer katholischen Kirche. Dort wurde geschossen. Im ersten Trainingshalbjahr schaffte Lutz fünf Schuss pro Abend. Danach zitterte er am ganzen Körper. Allmählich verbesserte sich seine Konzentration, und er kam zu Kräften. Drei bis vier Mal übte er jede Woche, und 1986 überreichte der Verein den ersten Pokal für Trainingsfleiß. Es folgten mehr als sechzig weitere. Die genaue Zahl interessiert ihn nicht. Nur eins sei wichtig. Ohne sein Luftgewehr, sagt Lutz, „wär allit nischt jeworden“. Er wäre den „Idiotenschein“, auf dem ihm die Ärzte lebenslangen Schwachsinn attestierten, nie losgeworden, wäre nie wieder zu einem Teil des Ganzen geworden. Mit dem Gewehr hat Lutz die Ärzte besiegt, hat auf das Herz ihrer Prognose gezielt und abgedrückt.

Fahrräder reparieren und damit Geld verdienen. Karten spielen, sarkastisch sein. Mittlerweile kann Lutz vieles, das er nach Meinung der Mediziner nie wieder hätte lernen dürfen. Seinen Realschulabschluss holte Lutz auf der Blindenschule nach. Dass Lutz seine Arme wieder gebrauchen kann, dass er damit auch schießen kann, verdankt er übrigens wesentlich einer Katze. Sein Krankengymnast hatte sie im Müll gefunden und Lutz geschenkt. Sie hieß Lina. Am Anfang konnte Lutz die Katze nur ungeschickt streicheln, im Laufe der Zeit wurde es immer besser. Zum Schluss hat sich Lina in seinen Händen dann sehr wohl gefühlt. 22 Jahre ist sie alt geworden. 22 Jahre ist es her, dass Lutz in den stehenden Laster fuhr.

ELISABETH WAGNER, 34, lebt als freie Journalistin in Berlin