Soll Eichel den Geldbeutel öffnen?

ja

Der Bundesfinanzminister sollte sofort handeln, meint Dieter Vesper. In der labilen gesamtwirtschaftlichen Situation ist es seiner Ansicht nach die Aufgabe der Finanzpolitik, das schwindende Vertrauen von Verbrauchern und Investoren zurückzugewinnen. Dazu sollte der Spielraum voll ausgenutzt werden.

Die Wirtschaft steht am Rande der Rezession. Doch handelt die Bundesregierung in dieser Situation gesamtwirtschaftlich vernünftig? Die Antwort lautet eindeutig: „Nein“.

Bisher weigert sich Bundesfinanzminister Hans Eichel, höhere Defizite und ihre Finanzierung über die Kapitalmärkte zuzulassen. Stattdessen will er Post-Aktien und weiteres Tafelsilber veräußern, um die Etatlöcher zu schließen.

Er bekennt sich also nicht dazu, den – ohnehin engen – Spielraum zu nutzen, den ihm der europäische Stabilitätspakt ermöglicht: Mit voraussichtlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im nächsten Jahr wird die deutsche Neuverschuldung unter der erlaubten Grenze von drei Prozent liegen. Vielmehr möchte Eichel an seinem Ziel der Sanierung des Bundeshaushalts festhalten, das in besseren Zeiten formuliert worden ist.

Wie stark die konjunkturelle Abkühlung ist, zeigt sich auch an den Steuereinnahmen, die in diesem Jahr um 12 Milliarden Mark und im nächsten Jahr um 18 Milliarden Mark hinter den Ergebnissen der Steuerschätzung vom Mai zurückbleiben werden. Dadurch erhöht sich der Anteil des gesamtstaatlichen Defizits am Bruttoinlandsprodukt gegenüber der Zielgröße, die dem Stabilitätsprogramm der Bundesregierung zugrunde liegt. Dazu kommen noch Beitragsausfälle der Sozialversicherungsträger sowie zusätzliche Ausgaben zur Finanzierung der höheren Arbeitslosigkeit.

Die gesamtwirtschaftlichen Ausgangsbedingungen sind außerordentlich ungünstig, Verbraucher und Investoren sind verunsichert. In einer labilen Situation wie dieser geht es vor allem darum, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren und dadurch Vertrauen zu schaffen.

Hierzu kann die Finanzpolitik zunächst einen Beitrag leisten, indem sie die konjunkturbedingten Einnahmeausfälle und Mehrbelastungen nicht durch einen zusätzlichen Tritt auf die Ausgabenbremse verschärft.

Weitere Einsparungen – die Ausgaben steigen ohnedies kaum an – würden die schwache Inlandsnachfrage abermals beschränken – und weitere Steuerausfälle nach sich ziehen. Es geht jetzt schlicht darum, Schlimmeres zu verhindern.

Deshalb sollte die Bundesregierung die für 2003 geplanten Steuerentlastungen um ein Jahr vorziehen und die dadurch entstehenden Kosten durch eine zusätzliche Schuldenaufnahme finanzieren.

Tatsächlich gibt es konjunkturell kaum einen günstigeren Zeitpunkt als 2002, denn die Wirtschaft benötigt dringend Impulse. Das verbessert die Aussichten für den Aufschwung im kommenden Jahr.

Notwendig sind aber auch vermehrte öffentliche Investitionen, die in den vergangenen Jahren eingebrochen sind. Deutschland gibt lediglich 1,8 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für öffentliche Investitionen aus. Im EU-Durchschnitt sind es immerhin 2,5 Prozent. Diese Forderung umzusetzen ist schwierig, weil insbesondere die finanzschwachen Länder und Gemeinden – siehe Berlin – dazu nicht in der Lage sind. Kurzfristig müsste also der Bund entsprechende Zuweisungen gewähren, mittelfristig ist eine grundlegende Reform des Gemeindefinanzsystems nötig.

Allein der Bund verfügt derzeit über den Spielraum, zusätzliche Nachfrage zu schaffen, die hilft, dass nicht noch mehr Betriebe, insbesondere im Bausektor und den Zulieferbereichen, zusammenbrechen. Doch geht es nicht darum, ein kurzfristiges Konjunkturprogramm zu starten, es geht darum, in einer konjunkturell prekären Lage auch mittelfristig Wirksames auf den Weg zu bringen.

Es besteht dringender Handlungsbedarf – und Handlungsmöglichkeiten gibt es genügend. Warum zögert die Bundesregierung bloß?

Sie befürchtet eine Glaubwürdigkeitskrise. Jedenfalls wird der Bundesfinanzminister nicht müde, darauf hinzuweisen, dass eine Abkehr vom Defizitziel die Glaubwürdigkeit des Konsolidierungskurses beeinträchtigen würde. Wird aber die Glaubwürdigkeit nicht eher in Zweifel gezogen, wenn die Politik versäumt, auf den Spielraum, den ihr der Stabilitätspakt einräumt, hinzuweisen und ihre Möglichkeiten auch konsequent zu nutzen? Sie argumentiert mit den Fesseln des (von ihr selbst) formulierten Stabilitätsprogramms und negiert die Optionen, die ihr der Pakt – im Zweifel das höhere Gut – lässt. Selbst die Europäische Zentralbank hat gehandelt, indem sie die Zinsen gesenkt hat. Will Eichel mit seiner Sparpolitik diesen Schritt etwa konterkarieren? Er muss handeln – und zwar jetzt.

Fotohinweis: DIETER VESPER (54) ist beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin Experte für Finanzpolitik. Er plädiert für eine nachfrageorientierte Geldpolitik des Staates. FOTO: AP

nein

Trotz lahmer Konjunktur sieht Joachim Scheide keinen Grund für Notprogramme. Seiner Ansicht nach richtet staatliche Intervention mehr Schaden als Nutzen an.

Der deutschen Wirtschaft geht es schlecht, daran gibt es nichts zu deuteln. Doch der Patient muss nicht auf die Intensivstation. Von einer Krise sind wir weit entfernt, da braucht die Regierung nicht über Notmaßnahmen nachzudenken. Die Europäische Zentralbank hat schon mehr als genug getan, um die Konjunktur anzuschieben. Abgesehen davon wurde bei der jüngsten Steuerschätzung festgestellt, dass die Haushaltslöcher noch größer sind als bisher gedacht. Da soll jetzt mit zusätzlichen Ausgaben noch mal draufgelegt werden? Wenn es denn wenigstens etwas nützen würde! Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, der Staat brauche nur seine Ausgaben hochzufahren und schon würde die Konjunktur auf Trab kommen. Wenn es so einfach wäre, könnte man getrost ausrechnen, wie viele Milliarden es denn sein sollen, um die gewünschte hohe Wachstumsrate oder die gewünschte niedrige Arbeitslosigkeit zu erreichen. Wie war das noch mit Münchhausen? Nein, von dieser Idee haben sich die meisten Ökonomen schon lange verabschiedet, darunter selbst renommierte Keynesianer.

Die Erfahrung zeigt, dass die Finanzpolitik eben nicht immer die erwarteten Effekte hat. Jüngstes Beispiel: Im Euroraum verzeichnete Deutschland 2001 den größten finanzpolitischen Impuls, zugleich aber auch den größten konjunkturellen Rückschlag. Ein Beispiel mit umgekehrtem Vorzeichen: In den Neunzigerjahren haben die USA die Staatsausgaben massiv zurückgefahren, dennoch erlebten sie den größten Boom aller Zeiten.

Wie kann man das erklären? Nun, die Steuerzahler lassen sich nicht immer wieder blenden. Sie wissen: Die Ausgaben von heute sind die Steuern von morgen. Die Finanzpolitik hat in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen, dass Ausgaben nicht nur vorübergehend hoch geschraubt werden, um die Konjunktur anzuschieben; sie wurden anschließend nämlich nicht wieder zurückgenommen. Entsprechend sind die Schulden und die Steuern immer weiter gestiegen. Niemand bestreitet heute, dass die Steuerbelastung in Deutschland viel zu hoch ist! Genau das ist aber die Folge einer Politik, die sich der Illusion hingab, der Staat könne der Konjunktur auf Dauer helfen.

Diese Erkenntnis hat sich – lange hat’s gedauert – in Europa mehr und mehr durchgesetzt. Deshalb haben die meisten Regierungen, auch die deutsche, sich vorgenommen, nicht nur die Neuverschuldung abzubauen, sondern auch die Steuern zu senken; damit das funktioniert, müssen gleichzeitig die Ausgaben begrenzt werden. Dies ist ein vernünftiges Ziel, denn nur so kann die Finanzpolitik das Wirtschaftswachstum fördern. Wenn man die Ausgaben nicht so stark ausweiten will – ein Senken fordert niemand! –, heißt das keineswegs, dass man bei den Investitionen den Rotstift ansetzen muss. Vielmehr hat die Bundesregierung angekündigt, den Anteil der Investitionsausgaben zu erhöhen zu Lasten der Konsumausgaben. Geschehen ist das bisher allerdings nicht. Was hat Bund, Länder und Gemeinden daran gehindert? Der wahre Grund ist wohl, dass sie nicht sparen können. Tatsächlich laufen die Staatsausgaben nämlich aus dem Ruder. Deshalb wird sich das Versprechen nicht einhalten lassen, die Sozialbeiträge und die Steuern fortlaufend zu senken. Das Gegenteil wird der Fall sein, 2002 geht es schon los. Und nun sollen durch Konjunkturprogramme die Ausgaben abermals aufgestockt werden? Ein deutlicheres Signal für künftige Steuererhöhungen kann es wohl kaum geben. Vor ein paar Jahren ist die damalige Bundesregierung auf europäischer Ebene für eine solide Finanzpolitik eingetreten. Für die Europäische Wirtschafts-Union (EWU) hatte sie den Stabilitätspakt durchgesetzt. Da ist es schon grotesk, dass ausgerechnet Deutschland heute das größte Defizitproblem hat. Böse Zungen meinen, der einstige Oberlehrer sei nun zum schlechtesten Schüler geworden.

Kurzum: Ausgabenprogramme bringen nichts, außerdem hat der Finanzminister kein Geld, und vor allem brauchen wir nicht noch höhere Steuern.

Fotohinweis: JOACHIM SCHEIDE (51) leitet die Forschungsabteilung Konjunktur beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Als einziges der führenden Institute fordert das IW derzeit, dass die Bundesregierung ihren strikten Sparkurs beibehält. FOTO: PRIVAT