Trittbrettfarce mit weißem Pulver

Am Ende der Geschichte beschimpfte sie der Staatsanwalt als Handlanger von Terroristen. „Wir kamen uns vor wie Verbrecher“, sagt Schwester Katrin

aus Gera BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Die chemische Formel ZnO steht für Zinkoxid. Ein weißes, nicht wasserlösliches Pulver. Ein Pulver, das das Leben der beiden Zahnarztschwestern Gisela und Katrin verändert hat. Obwohl sie schon lange regelmäßig damit zu tun haben, denn sie verwenden Zinkoxid normalerweise für provisorische Zahnfüllungen.

Normalerweise. Dieses Wort ist wichtig in der Geschichte von Schwester Gisela und Schwester Katrin, die nicht nur ihre Nachnamen nicht in der Zeitung sehen wollen, sondern auch auf geänderten Vornamen bestehen und es strikt ablehnen, fotografiert zu werden. Denn sie haben etwas getan, was man in Zeiten von Milzbrandattacken nicht tut. Beziehungsweise nicht tun sollte: einen Scherz mit weißem Pulver. Weil dieser als betriebsintern geplante Gag einen Großalarm auslöste, wurden die Frauen zu Trittbrettfahrern und Vorbestraften.

Als Treffpunkt schlagen sie die Kanzlei ihrer Anwältin Birgit Wolf in der Innenstadt von Gera vor. Die beiden Frauen haben sich dezent geschminkt. Schwester Gisela, eine 43-jährige Frau mit blonden schulterlangen Haaren, trägt passend zu ihren blauen Augen hellblauen Lidschatten. Kaum hat sie Platz genommen, packt sie eine Schachtel f6 aus und zündet sich die erste Zigarette an. Schwester Katrin ist ein Jahr älter, hat dunkelbraune Augen und trägt ihre dunkelbraunen Haare hochgesteckt. Sie legt eine Packung Cabinet auf den Tisch. Wenn die Frauen nicht wissen, wohin mit den Händen, finden sie Halt an den Schachteln.

Sie sind nicht nur als Zahnarztschwestern ein eingespieltes Team. Privat kennen sie sich seit 25 Jahren. Das heißt: ein Vierteljahrhundert gemeinsames Gickern. Schwester Katrin erzählt: „Es vergeht kein Tag, an dem wir keine Späße machen.“ Schwester Gisela nickt und grinst. „Wir blödeln immer rum.“ Schwester Katrin betont: „Unser Chef mit uns und wir mit ihm.“

Eine Spinne im Kaffee

Das geht schon seit zehn Jahren so. Sie haben ihm die Hosenbeine zugebunden, den Stuhl mit Parfüm eingesprüht, damit er rundherum duftet, und Plastikspinnen in seinem Kaffee versenkt. Er lauerte seinen schreckhaften Mitarbeiterinnen vor der Tür auf oder brachte sie mit Wasserspritzern zum Kreischen. Ein Ein-Witz-jagt-den-anderen-Betriebsklima.

In der Mittagspause des 15. Oktober, einem Montag, haben die Frauen wieder mal eine Idee. „Ohne zu überlegen, war der Einfall da“, erzählt Schwester Gisela und guckt dabei, als könne sie nichts dafür. Statt eines hohlen Zahns wollen sie einen Briefumschlag mit Zinkoxid füllen und an den Chef schicken. Bei der Vorstellung, wie ihm beim Öffnen des Briefes am nächsten Tag die Kinnlade runterklappt und ihm nach kurzem Blick zu den grinsenden Schwestern ein Licht aufgeht, amüsieren sie sich köstlich. Witz Nummer 3.212 sozusagen.

Schwester Gisela erzählt: „Eine Prise und ein weißes Blatt haben wir in einen Umschlag gesteckt und einen Aufkleber mit der Praxisanschrift draufgeklebt.“ Kaum ist der Doktor aus der Praxis raus, landet der Witz im Praxisbriefkasten. Nur der Chef hat den Schlüssel. Normalerweise sieht er die Briefe in Anwesenheit seiner Mitarbeiterinnen durch.

Doch es kommt anders. Schwester Gisela holt sich am Abend einen Bänderriss und liegt flach. Schwester Katrin muss am nächsten Tag für zwei arbeiten und der Chef hat keine Zeit für die Post. Erst am Mittwochmittag, die Praxis ist geschlossen und der Chef alleine, widmet er sich den Briefen. Als aus einem weißes Pulver rieselt, wählt er die 110. Gera hat den ersten Milzbrandalarm.

Ein nackter Kommissar

13.03 Uhr geht der Notruf bei der Einsatzzentrale ein. 13.08 Uhr ist Polizeikommissar Dirk Rosenkranz vor Ort. Wenige Minuten später vier Feuerwehrfahrzeuge, 14 Mann, zwei in orangefarbenen Schutzanzügen.Während der Brief für den Transport ins Labor in ein luftdicht gesichertes Gefäß gesteckt wird und auch die Kleidung des Kommissars und des Zahnarztes vakuumverpackt wird, liegt Schwester Gisela mit ihrem Bänderriss zu Hause und Schwester Katrin genießt ihren freien Nachmittag.

Die Dienststelle von Polizeikommissar Rosenkranz befindet sich in einem fünfstöckigen grauen Gebäude, wenige Straßen von der Zahnarztpraxis entfernt. Der Kommissar ist 32 Jahre alt und spricht mit einer Abgeklärtheit, als hätte er 20 Dienstjahre auf dem Buckel. „Der Arzt öffnete die Tür und weil es nur zwei Meter bis zu dem Brief waren, war ich in der unmittelbaren Gefahrenzone drin“, schildert Rosenkranz den Einsatz. „In dem Moment wussten wir nicht, was aus uns wird.“ Als 15 Uhr „die Maßnahme vor Ort“ beendet ist, hat er „ein mulmiges Gefühl“. Auch der Zahnarzt sei aufgeregt und unsicher gewesen.

Jetzt, nachdem sich alles als Scherz herausgestellt hat, ist Rosenkranz nicht wirklich sauer. Obwohl der Kommissar sich zusammen mit dem Zahnarzt auf dem Flur der Praxis splitternackt ausziehen und mit Desinfektionsmittel einsprühen musste. „Emotionen lasse ich da nicht raushängen“, sagt er. Nur verärgert ist er über einen „sinnlosen Einsatz“.

Noch am selben Nachmittag erfährt Schwester Katrin durch einen Anruf ihres Chefs von dem Weg, den das Zinkoxid-Pulver genommen hat. Doch sie glaubt es nicht. „Ich dachte, jetzt macht der Chef einen Witz“, sagt sie und guckt mit großen Augen. Als sie am Donnerstag wieder zur Arbeit geht, glaubt sie noch immer an einen Scherz mit einem Scherz. „Wenn es wirklich einen Polizeieinsatz gegeben hätte, hätte doch Chaos geherrscht und der Chef wäre böse gewesen!“ Doch der Praxisbetrieb läuft wie immer.

Schwester Gisela kommt am Freitagmorgen zur Arbeit. Ahnungslos, weil die Polizei aus Rücksicht auf den Ruf der Praxis keine Meldung über den Einsatz herausgegeben hat. Erst als der Chef der Reinigungsfrau von dem Alarm erzählt, kommen ihr Zweifel. Bis Gisela und Katrin diese in Worte fassen können, ist der Arzt nicht mehr in der Praxis. Am Freitagabend beichten die Frauen ihren Familien den missglückten Scherz und müssen sich Vorwürfe anhören. „Wir haben uns so geschämt“, erzählt Schwester Gisela und senkt den Blick.

Am Samstagmorgen endlich, nach einer schlaflosen Nacht, erreicht Schwester Gisela den Chef. „Ich will zur Polizei und mich stellen“, sagt sie. Während der Fahrt zur Polizei – der Chef holt sie mit seinem Wagen ab – ruft sie ihre Kollegin an. „Ach, der will uns nur veralbern“, sagt diese noch immer überzeugt. Dann entschließt sie sich doch für den Gang zur Polizei.

Der Arzt nimmt die erste Hürde für seine verunsicherten Angestellten. „Es geht um den Einsatz bei mir in der Praxis, die Frauen möchten sich stellen“, sagt er den Beamten. „Die Polizisten machten uns Mut und sagten, wenn wir Glück haben, kommt da gar nichts“, erzählt Schwester Katrin. Nach gut zwei Stunden verlassen sie die Wache. Das Wochenende verbringen sie „im Ausnahmezustand“. Schließlich sind auch Kripo und Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

Das erhoffte Glück bleibt aus. Am Montag sitzen sie in der Kanzlei von Anwältin Wolf und einem Kollegen. Am Dienstag liegt die Antragsschrift für das beschleunigte Verfahren vor. Darin wird den Frauen vorgeworfen, den öffentlichen Frieden gestört und einen Mord angedroht zu haben. Eine Woche später, am 30. Oktober, müssen sich Schwester Gisela und Schwester Katrin auf der Anklagebank im Amtsgericht anhören, wie der leitende Oberstaatsanwalt sie als „Handlanger von Terroristen“ bezeichnet. „Wir kamen uns vor wie Verbrecher“, sagt Schwester Katrin kleinlaut. Der Richter erlebt die Frauen als „fertig mit der Welt“, wie er später berichtet. Dass der Zahnarzt, der als Zeuge von zugebundenen Hosenbeinen und Spinnen im Kaffee erzählt, seinen Angestellten nicht kündigt, sondern nur eine Abmahnung ausspricht, wundert den Richter. Zwar sei nicht zu widerlegen gewesen, dass sie einen Scherz machen wollten, trotzdem verurteilt er die Frauen zu fünf Monaten Haft auf Bewährung und 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Geldbußen hat der Richter nicht verhängt. Mit der zu erwartenden Rechnung für den Polizei- und Feuerwehreinsatz „im fünfstelligen Bereich“ seien sie „genug bestraft“. Der Zahnarzt will sich gegenüber der Presse nicht äußern. Schwester Gisela und Schwester Katrin sind überzeugt, dass er sich Vorwürfe macht, ihren Witz nicht als solchen erkannt zu haben.

Der Horror schlechthin

Anwältin Birgit Wolf, eine resolute, couragierte Frau mit blonden kurzen Haaren von 50 Jahren, die fast so viel raucht wie ihre Mandantinnen, weiß aus Erfahrung, dass bei Missbrauch von Notrufen „bisher immer eine Rechnung gekommen ist“. Die Vorstellung eines Betrages zwischen 10.000 und 90.000 ist für Schwester Katrin „der Horror“ schlechthin. „Klar machen wir uns einen Kopf“, sagt Schwester Gisela und guckt dabei ganz unglücklich. „Aber fassen Sie mal einer nackigen Frau in die Tasche“, fügt sie mit einem Schulterzucken hinzu. Weil die beiden diese Vorstellung sofort bildlich umsetzen, müssen sie lachen. Aber nur ganz kurz.

Denn es vergeht kein Tag, an dem sie nicht darüber reden, wie sie vielleicht jahrelang die Einsatzkosten abstottern und vielleicht in kleinere Wohnungen ziehen müssen. Anwältin Wolf beugt sich über den Tisch und sagt mit ruhiger und bestimmter Stimme: „Wenn was kommt, gucken wir uns das an. Mal sehen, was wir machen können.“ Mit leiser Stimme und dankbarem Blick sagt Schwester Katrin: „Das wäre lieb.“

Bleibt die Frage, was die beiden verurteilten Frauen von Trittbrettfahrern halten. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, antwortet Schwester Gisela: „So was macht man doch nicht!“ Erst als ihr klar wird, was sie da gesagt hat, hält sie sich die Hand vor den Mund und muss lachen. „Wir haben uns doch nur einen Spaß gemacht und uns nicht als Trittbrettfahrer empfunden.“ Schwester Katrin springt ihr zur Seite. „Nein, sondern als Scherzkekse.“ Wie zum Beweis unterdrücken sie ein aufkommendes Lachen mit einem Biss auf die Unterlippe.

Nach Ablauf der zweijährigen Bewährungsstrafe gelten die Zahnarztschwestern weitere fünf Jahre mit einem Eintrag im Bundeszentralregister als vorbestraft. Erst in sieben Jahren haben sie wieder ein Führungszeugnis so weiß wie Zinkoxidpulver.