Sehnsucht verschwenden

Leidenschaftliche Leitfäden ohne lineare Geschichten, Frauen in blauen Unterröcken: Das Orphtheater zeigt „Lilith am toten Meer“, eine reduzierte, doppelbödige Trauerfuge

Das hier ist die Unterwelt. Oder Oberwelt. So genau lässt es sich nicht sagen: Beim Orphtheater geraten einem regelmäßig die Kategorien aus der Angel. Im Schokoladen, jenem schön morbiden Hinterhof in der Ackerstraße, spielen sie, um zu wissen, woran sie sind.

Immer ist es modernes Theater geworden, das sich den Begriffen der Moderne entzieht. Die „orphischen Abende“ sind weder einerseits noch andererseits. Sie sind einfach. Abende voller Lebenstrotz und Wut, Lust und Traurigkeit, aufgerollt an leidenschaftlichen Leitfäden, die alle persönlichen, künstlerischen und politischen Fasern ihrer auch wechselnden Mitglieder einwebt. Seit 1990 gibt es das Orphtheater, seit sechs Jahren ist Susanne Truckenbrodt künstlerische Leiterin und von Beginn an bildet diese freie Gruppe ein Lebens- und Bühnenlabor, eine Suchmaschine, die sich durch „Woyzeck“ oder „Baal“, Ernst Barlach oder Tschechow gefressen hat. Es ist ein Theater der ersten Schöpfungsstunde: archaisch, berstend und unschuldig-schuldig.

„Lilith am toten Meer“ ist nur die logische Fortsetzung dieser orphischen Linie. Dennoch ist die jüngste Arbeit wieder anders gestrickt. Diesmal stehen sieben Frauen in blauen Unterröcken auf der niedrigen Bühne und geben eine „tanz.theater.performance“. Eine lineare Geschichte wird nicht erzählt. Der eineinhalbstündige Abend will ein emotionales Spannungsfeld erzeugen, das Bühne wie Zuschauerraum in einen Strudel aus Sehnsucht und Niedergang treibt. Eine Trauerfuge, die auch Ausbrüche schneidender Komik kennt. Die mythische Figur der Lilith ist dabei nur der Anlass, um in ein traurigfrohes Spiel über Tod, Liebe und Verlust zu gelangen. Kronzeugen dieses energiegeladenen Malstromes sind Meister der Reduktion.

Arvo Pärt hat für die kongeniale Bühnenmusik von Daniel Dorsch Pate gestanden, Anselm Kiefer und seine Lilith-Arbeiten für den Grundgestus der Inszenierung und Samuel Beckett für das sparsam eingesetzte Wortmaterial. Vor allem Becketts Langgedicht „Flötentöne“ hat die Richtung vorgegeben. „Stell dir vor, ob dies (. . .) eines schönen Tages dies aufhörte, stell dir vor.“ heißt es darin. Jene doppelbödige Vorstellung ist dieser Abend, der seinerseits mit reduzierten Mitteln operiert. „Und das, obwohl wir sonst so ein Verschwendertheater sind!“ sagt Truckenbrodt. Verschwenderisch im Umgang mit Bühnenmitteln, nicht mit denen der öffentlichen Hand.

Derzeit erhält das Orphtheater 200.000 Mark pro Jahr: Keine üppige Ausstattung für eine der besten freien Gruppen in der Stadt. Theater wie das im Schokoladen ist sowieso nur unter Selbstausbeutung möglich. „Und immer das Ergebnis eines langen Prozesses“, erzählt Truckenbrodt. „In Lilith‚ steckt wenigstens ein Jahr Leben, stecken viele persönliche Verluste und Niederlagen.“ Ganz am Anfang sollte es eine Inszenierung werden, die sich jeden Abend neu erfindet. Aus dieser Zeit stammt ein Kurzfilm, der im Foyer zu sehen ist. Die Improvisationsetüden haben aber vor den Testzuschauern nicht funktioniert, und in den letzten zwei Wochen ist doch eine festgelegte Choreografie entstanden. Heute ist Premiere. „Und es wird widersprüchliche Reaktionen geben“ meint die Regisseurin. „So muss es wohl sein.“ fügt sie hinzu.

DIRK PILZ

„Lilith am toten Meer“, Orphtheater im Schokoladen. Ackerstraße 169/170. 29.11.-2.12, 6.12.-9.12., 21.00 Uhr