Das Recht, nicht geboren zu werden

Das Oberste Gericht Frankreichs hat einen Gynäkologen zu Schadenersatz verurteilt, weil er einer Mutter, deren Kind mit Down-Syndrom geboren wurde, nicht zur Abtreibung geraten hat. Behindertenverbände reagieren wütend und empört

aus Paris DOROTHEA HAHN

Dass Lionel vor sechs Jahren geboren wurde, ist für das Oberste französische Gericht ein „Schaden“. Das schwer behinderte Kind hätte abgetrieben werden sollen. Da das nicht geschah, hat es nun Anrecht auf 100 Prozent Entschädigung, entschied der Kassationshof gestern letztinstanzlich. Zahlen muss der Gynäkologe, der nicht rechtzeitig erkannt hat, dass Lionels Mutter ein Kind mit dem Down-Syndrom zur Welt bringen würde.

Die französische Justiz hat damit eine umstrittene Entscheidung vom November vergangenen Jahres bestätigt. Damals sprach ein anderes Gericht einem anderen Kind, das wegen der Rötelerkrankung seiner Mutter während der Schwangerschaft behindert zur Welt gekommen war, eine Entschädigung zu. Jene nach dem Familiennamen jenes Kindes benannte „Perruche“-Entscheidung löste zahlreiche Schadenersatzforderungen aus. Darunter auch die der Eltern von Lionel.

Bis zuletzt hatte Oberstaatsanwalt Jerry Sainte-Rose zu verhindern versucht, dass Lionels Leben von dem Gericht als „Schaden“ definiert würde. Es sei „gefährlich“, wenn die Justiz ein neues Recht einführe, „das Recht, nicht geboren zu werden“.

Auch französische Behindertenverbände halten die Entscheidung für fatal. Xavier Mirabel, Vater eines behinderten Kindes und Präsident des „Kollektivs gegen Behindertenfeindlichkeit“, sagte nach dem gestrigen Gerichtsentscheid: „Wenn die ganze Gesellschaft unsere Kinder so betrachtet wie dieses Gericht, wäre das unerträglich.“

Mirabels Kollektiv hat Klage gegen den französischen Staat eingereicht. Gestern Mittag demonstrierten Eltern von behinderten Kindern vor dem Pariser Hauptgericht. Auch das französische „Bio-Ethik-Komitee“ kritisiert die neue Rechtsprechung. Sie fördere die „Diskriminierung von Behinderten“, so hieß es, und schaffe einen Zwang zur „präventiven Abtreibung“.

Lionels Mutter, die „stellvertretend“ für ihr Kind geklagt hat, vertrat vor Gericht die Ansicht, der Gynäkologe habe sie „trotz deutlicher Anzeichen“ nicht über die Behinderung ihres Kindes informiert. Vor einigen Monaten hatte ihr ein Gericht in Rennes bereits eine Entschädigung in Höhe von 650.000 Francs (100.000 Euro) zugesprochen. Da ihr diese Summe als zu niedrig erschien, ging die Frau bis in die höchste Instanz. Wie andere Eltern behinderter Kinder argumentiert sie mit den hohen und lebenslänglichen Versorgungskosten.

Das Kassationsgericht entschied gestern, dass die hundertprozentige Entschädigung für Lionel, deren Höhe bei Redaktionsschluss noch nicht feststand, auf jeden Fall gezahlt werden müsse. Unabhängig davon, ob das Kind, das gegenwärtig in Brest bei seiner Oma, einer ausgebildeten Erzieherin lebt, später möglicherweise in einer staatlichen Einrichtung versorgt wird.

In den vergangenen Monaten und Jahren war die schulische und gesellschaftliche Integration von Behinderten peu à peu in die öffentliche Debatte in Frankreich gerückt. Zunehmend befassten sich LokalpolitikerInnen auch mit der überfälligen Anpassung des öffentlichen Raumes an die spezifischen Bedürfnisse von Behinderten. Die Entscheidung des Kassationsgerichtes gibt der Debatte eine radikal andere Richtung. Implizit stellt sie die Frage nach dem Recht auf ein behindertes Leben. Neben den Behinderten selbst und ihren Angehörigen dürfte das auch die Ärzteschaft verunsichern. Angesichts massiver Schadenersatzdrohungen könnten sich die Gynäkologen gezwungen sehen, fortan verstärkt zu Abtreibungen zu raten. Proteste sind auch von den rechtsaußen stehenden LebensschützerInnen zu erwarten.