Unschuldsvermutung als juristisches Pilotprojekt

Chile unternimmt eine längst überfällige Justizreform und orientiert sich dabei an der deutschen Strafprozessordnung und Praxis

HAMBURG/BERLIN taz ■ Chile reformiert seit Dezember 2000 seine Strafjustiz und nimmt sich dafür die deutsche Strafprozessordnung zum Vorbild. Seit mehreren Jahren fördert die Bundesregierung die Justizreform in Chile mit praktischer Hilfe.

Ein erster landesweiter Schritt erfolgte im August: Mit klarer Mehrheit stimmte der Senat für die Abschaffung der Todesstrafe – gleichzeitig wurde die Dauer der lebenslangen Haft von 20 auf 40 Jahre angehoben und eine überarbeitete Strafprozessordnung eingeführt, die sich am deutschen Recht orientiert. So galt etwa bislang ein Angeklagter als schuldig, bis der seine Unschuld bewiesen hatte – „ein unhaltbarer Zustand“, sagt Staatsanwältin Fabiola Garcia (38). Sie gehört zu einer 13-köpfigen Delegation aus Staatsanwälten, Vertretern der neu gegründeten Behörde für öffentliche Strafverteidiger und Beamten des Justizministeriums, die sich für eine Woche in der Bundesrepublik aufhält.

Allein die Einführung von Staatsanwaltschaften ist bereits ein Novum – bis vor einem Jahr führten Untersuchungsrichter die Ermittlungen. „Niemand kontrollierte sie und Prozesse wurden nicht öffentlich geführt“, bemängelt Oberstaatsanwalt Mario Maturana Claro (54) aus der Region Copiapo. Auch im Jugendstrafrecht blieb einiges auf der Strecke. „Bei uns gab es selbst für Kleinigkeiten Gefängnis. Arbeitsauflagen für Jugendliche waren fast unbekannt“, sagt Garcia.

Jörg Stippel (31), Projektmitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), bezeichnet die Festschreibung der Unschuldsvermutung im Gesetz und die Installation einer unabhängigen Staatsanwaltschaft als „wesentlichen Baustein einer fairen Rechtsprechung“.

Dabei geht die Reform nur in kleinen Schritten voran, denn es mangelt an Infrastruktur, Gerichtsgebäuden und Personal. „Es gibt in Chile vielleicht 60 oder 70 Strafrichter“, erläutert Carlos Maldonado Curtis (38), politischer Berater des Justizministers. Und die rund 80 Staatsanwälte des 15-Millionen-Einwohnerlandes sind hoffnungslos überlastet.

Erst 5 der 13 Regionen Chiles sind vom überarbeiteten Strafrecht erfasst. 2004 soll es im ganzen Land gelten. „Wir werden die Zahl der Staatsanwälte auf 625 erhöhen und die Zahl der Richter mindestens verzehnfachen“, kündigt Curtis an. Bis dahin gelten altes und neues Recht parallel. Neben einer von Radio- und Fernsehsendern gestützten Werbekampagne zur Sensibilisierung der Bevölkerung sollen Hospitationen bei den Vorbildern das nötige Know-how bringen. In Hamburg besichtigte die Delegation das „Santa Fu“-Gefängnis – in Berlin sprechen die chilenischen Juristen mit dem Rechtsausschuss des Bundestages. Garcia könnte sich eine noch intensivere Zusammenarbeit vorstellen, wenn „deutsche Staatsanwälte und Richter vor Ort mitwirken würden“.

GUNTHER SOSNA