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Vernichten? Ermatten?

Hans Delbrück, ein Historiker zu Zeiten des Wilhelminismus, wagte es, mit seiner „Geschichte der Kriegskunst“ in die Domäne des preußisch-deutschen Großen Generalstabs einzubrechen. Jetzt endlich beginnt Delbrück Nachfolger zu finden – nachdem in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg die Kriegs- zugunsten der Friedensforschung vernachlässigt wurde

von CHRISTIAN SEMLER

Was ist und zu welchem Ende sollen wir Militärgeschichte studieren? Geht es nicht vielmehr darum, die Friedenswissenschaften zu fördern, die sich mit der Verhütung künftiger Kriege beschäftigen? Die statt vergangener Schlachten die Ursachen der heutigen analysieren? Die von einer festen Perspektive ausgehen, nach der dem Staat in Zukunft das Recht zur Kriegführung im Namen internationaler Streitschlichtung entwunden werden muss?

All das ist richtig, entspricht auch einem bei uns weit verbreiteten Bewusstsein, das die Konsequenz aus den zwei von Deutschland im letzten Jahrhundert verursachten Massakern zieht. Aber es reicht nicht aus.

Vielmehr gilt es, die Geschichte der Kriege und des Militärs allgemein einer Analyse zu unterziehen, die beides ist: kritisch und zivil. Eine Militärgeschichte, die sich des Handwerkszeugs der Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Anthropologie bedient, die entmystifiziert und enttheoretisiert.

Auch heute wird Militärgeschichte oft auf Kriegsgeschichte verengt. Sie ist in der Regel militärisch geschulten Spezialisten vorbehalten, die, beschreibend und typisierend, aus vergangenen Kriegen die Nutzanwendung für heutige Kriege herzuleiten hoffen. Nur ein einziger universitärer Lehrstuhl, in Hamburg, beschäftigt sich heute mit Militärgeschichte. Den Rest besorgen die Hochschulen der Bundeswehr.

Das beginnt sich zu ändern. Nicht nur die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird heute – auch in ihren militärischen Aspekten – von Zivilen betrieben, die selten „gedient“ haben. Die historische Anthropologie wirft ihr Netz bis in die frühe Neuzeit, bis in den Dreißigjährigen Krieg. Sie erschließt neue Quellen, begründet neue Sichtweisen.

Abweichendes Verhalten gerät ins Blickfeld, so die Desertion als Dauerschrecknis für die Kriegsherren des Ancien Régime. Auch Carl von Clausewitz, dessen Werk „Vom Kriege“ die Militärstrategen bis in unsere Tage beeinflusst, ist bei den „Zivilisten“ en vogue. Über ihn arbeiten heute nicht nur Historiker der preußischen Geschichte, sondern auch mit der Gegenwart befasste politische Wissenschaftler.

Natürlich ist diese Öffnung nicht „innerwissenschaftlich“ erklärbar. Sie stellt sich als Resultat gesellschaftlicher Kämpfe dar, wie sie vor allem von der Friedensbewegung seit Beginn der Achtzigerjahre geführt worden sind. Auf der Ebene der aktuellen Politik erwächst dem Berufsmilitär und den Experten im Dienst der Regierung Konkurrenz in einer wachsenden Zahl kritischer Militärexperten, die ihre naturwissenschaftlich-technischen Kenntnisse, die „Waffe der Kritik“, in den Dienst einer „Kritik der Waffen“ stellen. Mit dieser Strömung ist die kritische Militärhistorie – wenn auch nur untergründig – verbunden. In beiden Fällen geht es darum, ein herrschendes, militärisch bestimmtes Interpretationsmodell anzugreifen.

Deshalb ist es kein Zufall, dass das vierbändige monumentale Werk Hans Delbrücks, die „Geschichte der Kriegskunst“, dessen letzter Band 1920 in Berlin erschien, im Jahr 2000 als fotomechanischer Nachdruck (versehen mit einer instruktiven Einleitung Ulrich Raulffs) neu aufgelegt worden ist. Denn Delbrück war, wiewohl Teilnehmer zweier Kriege, ein Zivilist, Professor der Geschichte an der Berliner Universität und Nachfolger auf dem Lehrstuhl des berühmtesten aller Chauvinisten, Heinrich von Treitschke.

Delbrück war das Gegenteil des hurrapatriotischen preußischen Reserveoffiziers, des Idealtypus der Epoche. Ein konservativer Querdenker, scharfzüngig, beharrlich bis stur, vollständig unabhängig im Urteil, scheute er nicht davor zurück, eine Jahrzehnte währende Polemik mit dem Großen Generalstab loszutreten. Er forderte nicht weniger, als die Militärgeschichte der historisch-kritischen Forschung anzugliedern und sie damit überhaupt der öffentlichen Debatte zugänglich zu machen. Diese spektakuläre Auseinandersetzung ist unter dem Namen „Strategiestreit“ in die Geschichte eingegangen.

Anders als die Think-Tank-Besatzungen unserer Tage interessierte sich Delbrück nicht in erster Linie für die Entwicklung der Waffensysteme. Er kannte die technischen Revolutionen der Neuzeit genau, zum Beispiel die in der Artillerie und im Festungsbau, beschäftigte sich aber hauptsächlich mit Infanterie und Kavallerie, wo große Menschenmassen aufeinander trafen. Er untersuchte, wie seit der Antike diese taktilen Einheiten, diese künstlichen Körper, sich veränderten, wie von den pikenbewaffneten Schweizer Haufen über die starren Gefechtslinien der absolutistischen Zeit bis zu den Volksheeren der Französischen Revolution (sein Werk endet mit Napoleon) sich die Gefechtsformen änderten.

Dank dieser Betrachtungsweise gelang es ihm, soziale und psychologische Einflüsse zu erfassen, auch Strukturen zu benennen, wie beispielsweise die bestimmende Rolle der Zenturionen, der „Hauptleute“ im römischen Heer. Delbrück wollte es genau wissen. Gestützt auf die Kenntnis aller Quellen, wies er bereits antiken Autoren Irrtümer nach, rekonstruierte die Schlachtfelder, korrigierte die Zahl der involvierten Soldaten – meist nach unten.

In den Kriegsschulen wie im Geschichtsuntericht vergangener Zeiten wurde den großen Schlachten, zum Beispiel der von Cannae im Zweiten Punischen Krieg der Römer gegen die Karthager, exemplarische Bedeutung beigemessen. Cannae war das überzeitliche Schulbeispiel einer Umfassungs- und Vernichtungsschlacht.

Gefragt werden musste: Warum rückte Hannibal nach diesem erfolgreichen Gemetzel nicht auf Rom vor, um die Hauptstadt des Feindes einzunehmen? Anders als der antike Historiker Titus Livius, dessen Schilderung der Ereignisse nach Eintritt der Katastrophe wir noch als Gymnasiasten mit angehaltenem Atem folgten, weiß Delbrück die Antwort. Hannibal konnte Rom nicht einnehmen, seine Mittel reichten nicht. Er manövrierte und schlug Schlachten, verfuhr also zweipolig – mit dem Ziel, die Römer zu einem Verhandlungsfrieden zu bewegen. Das war sein Kriegsziel, das aus seiner Analyse der Kräfteverhältnisse folgte. Wie sein römischer Gegner Fabius Maximus Cunctator war er ein Ermattungsstratege.

Jetzt befinden wir uns im Innern von Delbrücks Gedankenlabor. Sein Studium der Kriege Friedrichs II. von Preußen hatte ihn belehrt, dass entgegen der damals landläufigen Meinung der preußische König kein Anhänger der entscheidenden Vernichtungsschlacht war. Er wollte und konnte nicht alles auf eine Karte setzen. Seine Kriegsziele gingen stets auf strategisch begründeten Gebietsraub aus, nicht auf die Vernichtung der gegnerischen Macht. Delbrück stellt nach seinen Forschungen die Unterwerfungs- der Ermattungsstrategie gegenüber. Für Erstere stehen die Napoleonischen Feldzüge einschließlich des Angriffs auf Russland. Für Letztere steht eben Friedrich II.

Delbrück war ein Bewunderer von Carl von Clausewitz und legte eine umstürzende Neuinterpetation von dessen theoretischer Arbeit vor. Bis in unsere Tage gilt Clausewitz, vor allem in der angelsächsischen Militärliteratur, als Hauptvertreter des absoluten, modern gesprochen: des totalen Kriegs, als Theoretiker der Vernichtungsschlacht.

Der englische Militärhistoriker Liddell Hart nannte ihn schon zwischen den beiden Weltkriegen den Inspirator und Anführer, den „Mahdi der Massenkriege“, und nach 1945 schien er angesichts der atomaren Konfrontation endgültig als bluttriefender Atavist. Aber schon in den Achtzigerjahren des vorletzten Jahrhunderts wies Delbrück anhand einer peniblen, geradezu philologischen Analyse nach, dass Clausewitz gegen Ende seines Lebens zwei Formen der Kriegführung gegeneinander setzte, je nach dem unterliegenden politischen Zweck: eine unumschränkte mit dem Ziel der Wehrlosmachung des Feindes und eine eingeschränkte, die bestimmte politische Vorteile durchzusetzen trachtete.

Seiner Natur nach tendiert der Krieg nach Clausewitz auf die Seite des Absoluten. Aber das Primat der Politik kann ihn, indem es realistische Kriegsziele setzt, mäßigen. Denn der Krieg ist, so die berühmteste aller Clausewitz’schen Maximen, die Fortsetzung der Staatspolitik unter Einsatz anderer Mittel. Delbrück untersuchte nicht, was Clausewitz unter „Politik“ verstand. Ihm war es vor allem darum zu tun, mit der Unterscheidung von Ermattung und Entscheidung ein dialektisches Prinzip einzuführen und damit überhaupt verschiedene, politisch begründete Optionen der Kriegführung sichtbar zu machen.

Mit seinen Arbeiten zur Strategie Friedrichs II. traf Delbrück den Nerv der wilhelminischen Militärpolitik. Der Große Generalstab hatte Friedrich II. zum Ahnherrn der Vernichtungsschlacht stilisiert. Von ihm sollte eine gerade Linie über Napoleon und die Befreiungskriege zum älteren Moltke, dem Vernichtungsstrategen der Reichseinigungskriege, und von dort zu Schlieffen, dem Strategen des Zweifrontenkriegs (rascher Sieg über Frankreich, dann Offensive im Osten), führen. Es handelte sich also um ein zweckdienliches Konstrukt, Friedrich „den Großen“ als mythischen Ahn zu legitimieren.

Wenn diese Traditionslinie gültig war, wenn sie die den „deutschen Bedingungen“ einzig angemessene war, dann bedeutete dies eine prinzipielle Offensivstrategie.

Um die französischen Armeen einzukesseln und zu vernichten, musste folgerichtig die Politik des Reichs einen präventiven Militärschlag und damit die Verletzung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs in Kauf nehmen. Wenn aber Friedrich II. in Wirklichkeit ein „zweipoliger“ Stratege war, mithin ein Protagonist der Delbrück’schen Ermattungsstrategie, dann brach die ganze Kette der Legitimation in sich zusammen.

Entsprechend brachial war die Reaktion des Generalstabs, die dem Zivilisten rundweg jede Kompetenz in der Militärstrategie absprach. Aber das Kaiserreich als hybrides, bürokratisch-militaristisches Gebilde war bereits derart durchlöchert, dass Delbrück nicht mundtot gemacht werden konnte, sondern aus jeder der aufeinander folgenden Runden des Strategiestreits gestärkt hervorging.

Bekanntlich folgte der Erste Weltkrieg auf deutscher wie auf französischer Seite der Stategie der Entscheidungsschlacht. War aber nicht der Stellungskrieg um Verdun, den auf deutscher Seite der General von Falkenhayn, ein heimlicher Bewunderer Delbrücks, konzipiert hatte, ein später Sieg der Ermattungsstrategie? Keineswegs. Der deutsche Generalstab, der an die Stelle „der Politik“ getreten war, wollte die französischen Streitkräfte bei geringen eigenen Verlusten vor Verdun ausbluten lassen und anschließend auf einen Diktatfrieden zusteuern. Statt Zweipoligkeit ein allgemeines Abschlachten, das Ende der Kriegskunst, das Ende der Politik.

Die Delbrück’sche Problematik aufgreifend und vertiefend, hat Raymond Aron in seiner berühmten Studie „Clausewitz. Den Krieg denken“ zu Beginn der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts nochmals den Leitgedanken von Clausewitz herausgearbeitet. Allgemein gesprochen handle es sich um zwei Arten von politischem Zweck des Krieges: Diese Zwecke beeinflussen das Kriegsziel.

Wie soll die Rückkehr zum Frieden bestimmt werden und welchen Charakter sollen die Beziehungen zwischen den Feinden in dem Augenblick haben, in dem die Feindseligkeiten aufhören? Wird es ein diktierter Frieden nach dem entscheidenden Sieg sein oder ein Frieden durch Verhandlungen, ohne dass einer der Kriegführenden geschlagen worden wäre?

Trotz eines überschäumenden preußisch-deutschen Nationalismus, dem Clausewitz während der napoleonischen Besetzung Preußens anhing, (und den Delbrück nicht in diesem Ausmaß teilte), waren der Lehrer wie sein Schüler sich der Gefahr bewusst, dass die modernen Kriege, weil sie die gesamte Gesellschaft mobilisierten und ideologisierten, die Tendenz zum totalen Krieg in sich trugen.

Clausewitz hatte den Partisanenkrieg, den „kleinen Krieg“, am Beispiel der spanischen Erhebung gegen Napoleon studiert und bis zu den Befreiungskriegen seine Anwendung auf Deutschland empfohlen. Aber diese Traditionslinie führte weder Clausewitz noch Delbrück zu einer Theorie der Volksbewaffnug, der Volksmiliz und des Volkskriegs, wie sie später für die Militärpolitik der sozialistischen Linken ausschlaggebend wurde. Vielmehr vertrauten beide der „Intelligenz des personifizierten Staates“ (Clausewitz) – also der aufgeklärten, dem Gesamtinteresse des Staates verpflichteten konstitutionellen Monarchie.

Seltsamerweise sieht Raymond Aron diese Intelligenz auch im Atomzeitalter am Werk. Dass die „mutual assured destruction“ nicht Wirklichkeit wurde, ist nach ihm Folge einer Zweckrationalität bei beiden Supermächten. Die Intelligenz sei sogar personifiziert, einmal in der Person des Präsidenten der Vereinigten Staaten, das andere Mal in der Gestalt des sowjetischen Politbüros.

In dieser Konstellation, die den großen Krieg vermeidet und nur zu kontrollierbaren Stellvertreterkriegen in der Dritten Welt führt, sieht Aron den eigentlichen späten Triumph des Clausewitz’schen Theorems vom Primat der Politik.

    Können wir diesem Verständnis von Politik folgen? Besteht im Falle des Kriegs in Afghanistan Klarheit über die politischen Zwecke, über das Kriegsziel, über die besonderen Umstände der Kriegführung? Tragen die Aktionen der gegenwärtigen Koalition mit den Vereinigten Staaten von Amerika an der Spitze die für die Clausewitz’sche Intelligenz charakteristischen Züge? Ich bin ziemlich sicher, die Lektüre der „Geschichte der Kriegskunst“ legt es nahe, dass Hans Delbrücks Antwort auf all diese Fragen ein klares Nein! wäre.

Hans Delbrück: „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte“ (Vorwort von Ulrich Raulff). Walter de Gruyter, Berlin 2000, Neuausgabe des Nachdrucks von 1964, vier Bände, 2.004 Seiten, 256 Mark CHRISTIAN SEMLER, Jahrgang 1938, taz-Autor seit 1989, lebt in Berlin

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