Unerträgliche Provokation

Die NPD will heute gegen die Wehrmachtsausstellung marschieren – mitten durch das jüdische Viertel in der Spandauer Vorstadt. Bei den Anwohnern regt sich Protest. Ein Stimmungsbericht

von M. DRAEKE, F. GRÄFF
und U. SCHULTE

„Scheiße“, sagt die junge Frau im Leinenkontor in der Tucholskystraße hinter ihrer Nähmaschine. „Im April, an Führers Geburtstag, haben sie mir schon mal die Scheibe eingeschlagen“, erzählt sie und meint die Neonazis, die heute ab 13 Uhr von der Friedrichstraße aus in der Spandauer Vorstadt gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskriegs“ demonstrieren wollen.

Die Leinenhändlerin ist nicht allein mit ihrer Wut über den angekündigten NPD-Marsch gegen die Wehrmachtsausstellung. Karsten-Uwe Heye, Sprecher der Bundesregierung, sprach am Freitag von einer „unerträglichen Provokation“. In der Jüdischen Gemeinde der Stadt herrsche „totales Unverständnis“, so Andreas Nachama, Rabbiner und Direktor der Stiftung „Topographie des Terrors“. Die Partner der künftigen Ampelkoalition wollen die heutigen Verhandlungen unterbrechen, um geschlossen die Ausstellung zu besuchen. Dennoch mochte sich die Innensenatsverwaltung gestern nicht zu einer Änderung der NPD-Route äußern. Die Anwohner bleiben im Ungewissen: Die junge Frau im Leinenkontor hat ihre Kunden gebeten, Bestellungen erst nach 18 Uhr abzuholen. „Diese Demo ist doch Hohn und Spott für die Leute, die hier wohnen.“

Auch der Verkäufer im Baustoffladen nebenan ist strikt gegen die Demo. „Das hat nichts mehr mit freier Meinungsäußerung zu tun“, sagt er und schüttelt den Kopf mit dem grünen Käppi. „Das hier ist ein jüdisches Viertel – es hat eine fatale Außenwirkung, wenn hier Neonazis demonstrieren.“ Und dann fragt er: „Was sind das für Bilder, wenn die Polizei die streikenden Rabbis wegtragen müsste?“ Anetta Kahane, Sprecherin der jüdischen Gemeinde, kündigte ein jüdisches Minchah-Gebet an. „Mitten auf der Straße, über die die NPDler ziehen werden.“

In der allgemeinen moralischen Entrüstung fällt nur der Blumenhändler aus der Reihe. Zwischen Lilien und Anemonen klagt er über den „immensen Geschäftsausfall“. Daran hätte die Senatsverwaltung doch denken sollen, als sie die Neonazi-Demonstration billigte.

Die Wehrmachtsausstellung selbst rechnet heute mit großem Andrang. „Wir stellen uns auf viele Besucher ein“, bestätigte Beate Barner, Sprecherin der „Kunst-Werke“ in der Auguststraße. Es werde mehr Personal als sonst eingesetzt. In der Nachbarschaft hängen in vielen Fenstern Plakate – „Gesicht zeigen“ steht darauf. An einem Baugerüst flattert ein Transparent mit der Aufschrift „Mitte stellt sich quer“. Der Student Stefan, der in einer Kneipe um die Ecke arbeitet, findet es „saumäßig ärgerlich“, dass die Demos der Neonazis immer wieder genehmigt würden. Besondere Vorkehrungen für den Fall, dass die Rechtsradikalen vorbeimarschierten, treffe seine Kneipe aber nicht. Schulterzuckend sagt er: „Wer hier reinguckt, sieht schon am Publikum, dass wir das nicht unterstützen.“

Viele Besucher der Wehrmachtausstellung befremdet der Gedanke, dass am Samstag möglicherweise bis zu 4.000 Neonazis direkt an den Veranstaltungsräumen vorbeimarschieren könnten. „Ich verstehe nicht, dass wir das nicht in den Griff bekommen“, meint ein älterer Besucher kopfschüttelnd. Er selbst ist 1931 geboren. „Ich weiß, was damals passiert ist. Wir müssen uns an die eigene Nase fassen.“

Vor der Ausstellung studiert eine junge Frau an einer Hauswand den Aufruf zur Gegendemonstration. Sie ist aus Bielefeld angereist, der nächsten Station der Ausstellung. Dort möchte sie selbst Führungen machen. „Ich dachte, es würde diesmal nicht so brisant“, meint sie im Hinblick auf die Überarbeitung der Ausstellung. „Die Neonazi-Demonstration hier stattfinden zu lassen, fände ich unverantwortlich“, sagt sie entrüstet.

Während sich Mitte auf marschierende Rechte vorbereitet, hat Josef Asche aus Prenzlauer Berg bereits einschlägige Erfahrungen. Vor sechs Wochen hatten ihm Unbekannte NPD-Aufkleber an die Tür geklebt. „Berlin, wir kommen“ stand darauf. Am Donnerstagnachmittag seien zwei Gestalten an seinem Laden vorbeigezogen, die ihm „Heil Hitler“ zugerufen hätten, erzählt er. „Ihr mich auch“, habe er geantwortet. Spät abends rief ihn dann eine Freundin an: Das Fenster des Antiquariats sei eingeworfen worden. „Materielle Schäden sind zu beheben“, meint Asche lakonisch. Die Eisenstange lehnt noch vor seinem antifaschistischen Buchantiquariat in der Dunckerstraße, die Schaufensterscheibe ist zersplittert. Ein Polizeisprecher wollte gestern einen rechtsextremen Hintergrund weder bestätigen noch ausschließen. Fest steht: Das Landeskriminalamt 5, zuständig für Staatsschutz, ermittelt.

Buchhändler Asche wird nicht gegen die Neonazis protestieren: „Ich kann meine Kollegin jetzt nicht allein lassen, wir müssen den Laden beschützen.“