Der Himmel über der Wüste

40 Tiere und 23 Menschen marschieren tagelang im Schulterschluss und wappnen sich gegen die unendliche Weite. Und da in der Wüste eigentlich nichts passiert, gewinnen Reisegefährten an Kontur. Eine Kameltour durch die Wüste Ténéré in Niger

von MARTIN MÜLLER

Wir marschieren ins Blaue. Mitten hinein in die Farbe der Sehnsucht, vielleicht in der Hoffnung, das Indigo-Nirgendwo in unser eigenes Irgendwo einzuverleiben, als wenn man das könnte, dem Himmel über der Wüste sein blaues Geheimnis wie eine Maske wegreißen, um sich selbst damit zu kleiden. Immerhin gelingt uns das kosmetisch in Agadez, der Tuareg-Stadt am Wüstenrand, wo uns ein Zwei-Meter-zehn-Kerl abfängt, der uns mit dem sicheren Gespür für die Wünsche von modernen Wüstenreisenden in den Gewahrsam seiner Händlerehre nimmt, und von ihm werden wir mit Meterware aus dem blauen Himmelsversprechen eingewickelt und dann in die Wüste geschickt, wo wir die nächsten zwei Wochen unserem Karawanen-Blues nachhängen.

Erster Wüstentag. Habe mich für Bergschuhe entschieden. Sandalen wären passender gewesen. Die Hitze lässt die Füße um anderthalb Größen anschwellen. Alle Zehen danken mit Blasen. Flucht aufs Kamel? Noch nicht. Die Tiere sehen aus wie verrückte Dalí-Fantasien. Beim Aufstehen kollern sie wie eine kaputte Wasserleitung. Also gehe ich durch den Sand, der mal nachgiebig, mal halbwegs fest ist. Dankbar für den steten Windhauch. Die Schattenseite des Körpers bleibt so erstaunlich kühl. Um mich herum wehen die beim Aufbruch gebundenen Tücher, durch die man sogar Wasser trinken kann. Die Tuaregs, von denen unsere Führer Abdullai und Mohammed und der Koch Bilal Französisch sprechen, ziehen den Schäsch über den Mund hoch. Mohammed erklärt, dass es unschicklich sei, den Mund zu entblößen. Er zeigt, wie man ein Glas Tee unter das Tuch an den Mund hebt. Bitter aufgekochte Minze mit ganz viel Zucker.

In der Wüste passiert nichts. Deshalb gewinnen Reisegefährten enorm an Kontur. Einige mit der Gabe ausgestattet, still mit dem Herzen die Dinge zu betrachten, andere stören durch ihr mitgeschmuggeltes Daheim- Geschwätz, als gelte es, den gerade neu gewonnenen Raum mit alten Geschichten zu möblieren, um sich auszukennen.

Und trotz der grandiosen Weite um unsere Minikarawane aus 40 Tieren und 23 Menschen marschieren wir zunächst tagelang im Schulterschluss, wir wappnen uns gegen ebendiese schreckliche Weite, vier Tage lang blicken wir in pures Nichts, ein zahnloses Grinsen über uns, die Ténéré präsentiert nur ihren platten Waschbrettbauch mit Rippenmuster, als wären Vorstellungen von sinnlichen Silhouetten lustvoll geschwungener Dünen ein wüstes Hirngespinst über die Topographie der Sahara.

Reinhard ist ein Reisegefährte nach meinem Herzen. Aus dem Himmelspuzzle gefallen, denke ich, wenn er, tagein blau gewandet, wortkarg sich den Hintern wund reitet unter der brütenden Sonne, tagaus die Geschichten vom dann flirrend getupften Firmament pflückt wie tausendundeinen Planeten, mit dem unablässigen Sternschnuppenhagel um blitzende Eingebungen wetteifert. Abends lässt er seine Fantasie mit dem Mond über den Tellerrand der Wüste aufquellen, als sei die helle Leere des Tages und eine Hand voll runzeliger Datteln zwischendurch die einzig wahre Hefe für einen Teig aus Erzählungen, die jedem gewieften arabischen Geschichtenmaul zur Ehre gereichten.

Vierter Wandertag. Liegen abends zum ersten Mal in ein weiches Dünental gebettet. Jetzt ist klar: 35 Kilometer am Tag sind zu viel. Wir sind doch keine Salzkarawane. Die laufen achtzehn, zwanzig Stunden, gegessen und gedöst wird in luftiger Sitzhöhe von zwei Meter zwanzig. Sind bereits zehn Karawanen begegnet. Und einer riesigen Kamelherde, die zum Kamelmarkt in Libyen getrieben werden. Dort wartet auf viele Tiere das Schlachthaus. Die Begegnungen haben etwas Unwirkliches. Entweder ziehen die Karawanen in der Ferne wie eine endlose Perlenkette vorbei. Oder wir streifen sie fast. Beinahe lautlos, Huftritte gedämpft vom Sand. Leises Knarren der geflochtenen Seile und ledernen Riemen. Sonst nichts.

Mohammed, lass uns doch ein Stück hinter der Karawane hergehen. Gerne, antwortet Mohammed mit seinem sanften Lächeln, und wir üben uns Seite an Seite in der Beobachtung der anderen, die in kleinen Gruppen zusammenkleben, die meisten ziehen ihr hochmütig daherwiegendes Kamel hinterdrein, und dann weist Mohammed mit ausgestreckter Hand auf eine Gestalt solo unterwegs und sagt „Horst“. Horsts Gang ist zu seinem unveränderlichen Kennzeichen geworden, fließender Stoff umflattert seinen siebzig Jahre alten sehnigen Körper, und das leichtfüßige stetige Raumgreifen spricht deutlicher als seine Stimme.

Wann sieht man in unseren Städten mit ihren kurzen Wegen und abgezirkelten Bewegungen mal jemand stundenlang beim Ausschreiten zu, wann erlaubt die Mode uns statt Stoffknappheit derart verhüllende Sinnlichkeit, und weil Horst seine Tage meist allein mit gesenktem Kopf gehend verbringt, in sich versunken wie schwebend, den Blick scheinbar unentwegt auf die kleinen, vom stetig aus der selben Richtung wehenden Wind geschaffenen Bodenrippen geheftet, hat der älteste von uns Wüstenwanderern eine Aura um sich geschaffen, die Mohammed und den anderen Tuaregs höchste Achtung abnötigt.

Mittagsrast. Zum Lunch Zeltbau aus Decken und Stangen. Zwei Stunden dösend im Schatten. Die Tuaregs staunen. Ihre sehnigen, leichten Körper unermüdbar. Die meisten von ihnen pendelten bislang zwischen den Brunnen ihrer kargen Weidewirtschaft in der Sahelzone und den Salzoasen Farchi und Bilma. Touristen sind neu auf den Routen. Deren Bedürfnisse auch. Bilal kocht allerdings schon seit Jahren für Jeep-Reisende aus Europa. Sein Tweedjacket trägt er wie eine Robe, wenn er im Sand hockend Dosen mit Erbsen öffnet, Zwiebeln und Rote Bete schält. Leuchtende Orangen zum Nachtisch. Einen Tuareg macht der Luxus krank. Der Dosen-Thunfisch bekommt Rabdar nicht. Mit Salbeitee versucht er den Magen zu besänftigen.

Mein Kamel nenne ich in aller Zuneigung Zicke. Obwohl wir eigentlich nur mit kastrierten Männchen unterwegs sind, und das hat seine Gründe, wie wir schnell durchschauen, denn der einzige vollständige Kamelhengst hat wenig Lust auf den Trip und lässt sich von uns Novizen nicht reiten, wofür Abdullai listig den Duft der Kameldamen in der Sahelzone verantwortlich macht, von dem sich der unwirsche Dunkelbraune mit jedem Schritt entfernt, als wüsste er, dass Bilma und zurück statt Kamellust nur Frust erwarten lässt. Meine Zicke hat kein Problem damit, unsere Händchen haltenden Karawaniers auch nicht und mir gefällt das nachmittägliche Dösen im leise knarzenden Sattel, den Blick träge auf die Püschelohren fokussiert.

Die Erotik der Wüste liegt in kleinen Berührungen, Andeutungen und dürren Enthaltsamkeiten, und die Sinne werden brüchig wie unsere Lippen und der Lederriemen, der den Sattel hält, Letzteres manchmal aber auch nicht, das gibt dann ein böses Erwachen mit Hintern oder Gesicht im Sand.

Fachi. Nach sechs Tagen ohne Baum oder Strauch jetzt ein Meer aus Dattelpalmen. Bei Fachi endet die Ténéré, es beginnt der Erg von Bilma. Die Oase liegt am Fuße eines Gebirges, wo der Grundwasserspiegel stellenweise an die Oberfläche tritt. Versalzungen werden aus Wasserbecken abgeschöpft, in lederummantelte kegelförmige Behältnisse gegeben und dann als große Hüte zum Trocknen aufgestellt. Handarbeit. Die pechschwarzen Salinenarbeiter haben kratzige Schaufelhände. Das dunkle Salz ist für die Tiere des Sahel, das weiße für die Menschen. In Fachi gibt es Brunnen für Menschen und solche für Kamele. Dutzende von Litern Wasser tankt jedes Tier für die nächste Wüstenwoche. Das Wasser muss mühsam in abgesenkten Behältnissen hochgewunden werden. Abends zieht es uns schon wieder weg von den Häusern in die Wüste.

Die Dünen wachsen nun in den blauen Himmel. Elfenbeinfarben bleichen in den lang gezogenen Dünentälern Kamelknochen, trockene Kamelscheiße formt pechschwarze Kugeln, wo durchziehende Karawanen sie als Brennstoff benutzten. Unsere Gespräche sind knapper geworden, die Bärte länger, die Bewunderung der Tuaregs für die ausdauernd reitenden weißen Frauen längst Geschichte, und unsere eigenen Geschichten stolpern nicht mehr über das Daheim. Da ist die Ankunft in Bilma ein Schock. Gerade schien uns das Ziel nicht mehr wichtig.

Unmerklich haben wir uns in das menschliche Treibholz des Wüstenmeeres eingereiht, wie die im Winter ziehenden Karawanen und die Sahara-Handelsreisenden und politischen Grenzgänger, die zwischen Ghana und Lybien wochenlang auf langsame Lkws getürmt durch den Sand kriechen, wie rollende Bienenstöcke, einmal im Jahr von der Rallye Paris–Dakar überholt.

Später. Wir spüren noch das Summen des Sandwinds in den Ohren, als wir nach mehrtägiger Rückreise wie verlorene Gepäckstücke wieder daheim eintreffen – an den Fingern und am Hintern prangen die Schwielen von Kamelzügel und Sattel. Die hüten wir noch tagelang, damit nähren wir im heimischen Zimmer den aufkeimenden Traum von einer weiteren Reise ins Blaue hinein, ohne dass wir genau beschreiben könnten, wo wir waren und warum wir dort wieder hinwollen.