Anne Clark statt Magnesium

Die Berliner Turner treffen sich zur großen Ballnacht in der Max-Schmeling-Halle – und schreiben Postkarten an Wowereit. Sie sind mit den Plänen des Abgeordnetenhauses nicht einverstanden

von HOLGER STRÖBEL

Es muss Jahre her sein: Der computergenerierte Rhythmus, das Synthie-Stakkato, die vokalisierte Weltuntergangsstimmung: Und während man noch über Funktionalität und Kontextabhängigkeit von Musik sinniert, also darüber, ob einen Anne Clarks „Our Darkness“ mehr an die dunklen Zeiten in der Wave-Disco oder doch eher an das einst innig geliebte „Zak“ von Friedrich Küppersbusch erinnern soll, schleicht sich ein anderer Gedanke dazu.

Wo sind wir eigentlich?

Ja, wenn man’s wüsste. Jedenfalls wird heutzutage zu der Indie-Hymne von einst (später auch zu Rammstein) geturnt. Das ist natürlich nicht normal.

Normal ist: Schweiß, Magnesium, der gestrenge Blick einer Prüfungskommission. Und all das, was man im Schulsport gehasst hat: Barren, Reck, Ringe, Pferd. Turnen, allein das Wort.

Ein bisschen Muff haftet immer noch am stetigen Mühen an Gestänge und Gebälk. Und da haben wir das Problem: Nach Schulsporthalle will niemand riechen, beim Deutschen Turnerbund schon gar nicht, und sowieso hat man als Turner, sagt Sonja Schmeisser vom DTB, „die Show im Blut“. Was also tun? Man geht auf Tournee. Am Samstag hatte die Werkschau des Deutschen Turnerbundes in Berlin Premiere – aus denkbaren Gründen hat man sich den Titel Gym-Motion gegeben und zum besseren Verständnis noch das Wort „Ballnacht“ druntergeschrieben. Acht weitere Städte, von Tuttlingen bis Frankfurt, werden in den nächsten Tagen folgen.

Das Prinzip ist: Da selbst Übungen von Iwan Iwankow, einem aktuellen Weltmeister, oder Andreas Wecker, dem lokalen Olympiasieger schwerlich für eine beinahe ausverkaufte Max-Schmeling-Halle gesorgt hätten, peppt man die sportliche Betätigung ein wenig auf. Mit Trockeneis, mit Kostümen, mit Conferencier, Musik und allerlei Brimborium. Inszeniert hat die aufwendige Veranstaltung Wolfgang Bintzle, ehemaliger Weltmeister im Rhönradturnen. Sein Anspruch: „Eine harmonische ganzheitliche Präsentation.“ Letztendlich heißt das nicht viel anderes, als dass zwischen den einzelnen Übungen eine kleine Liebesgeschichte erzählt wird. Raffinierter ist es da schon, als lokales Fenster 400 Kinder aus Berliner Turnvereinen zu integrieren.

So ergibt sich der hübsche Nebeneffekt, dass dem ausrichtenden Landesverband allein durch die Angehörigen der Kleinen ein beträchtlicher Teil des Kartenkontingents abgenommen wird.

Warum auch nicht? „Klar ist das hier auch so was wie ein Familientreffen“, sagt Sonja Schmeisser, „eine Belohnung für die Aktiven.“ Was dem Mittelstand die Weihnachtsfeier, ist dem Turnerbund Gym-Motion.

Klar, dass sich ein solches Jahrestreffen auch prima dazu nutzen lässt, ein bisschen Politik zu machen. „Sagt nein zu dieser Rasenmäherpolitik“, forderte Peter Hanisch, bevor es spaßig wurde. Über Nutzungsgebühren für Sporthallen, Kürzungen der Sportförderung und dem Stopp der Förderung von Vereinsheimbauten – das alles sei vom neuen Berliner Senat geplant – sprach der Präsident des Landessportbundes, worauf die knapp 7.000 Besucher zum kollektiven Buhrufen anhoben.

Wenn es nach Hanisch geht, wird der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit deshalb demnächst 7.000-fach Post bekommen. Entsprechende Karten mit den Forderungen des Landessportbundes fanden sich in den Programmheften. Falls das Wehklagen der Berliner Sportvereine ungehört bleiben sollte, teilt man auch gleich die Konsequenz mit: Dann sei „die Ampel aus, bevor sie zustande kommt“. Das könnte passieren. Aber aus anderen Gründen.