Ein amerikanischer Taliban

John Walker ist im Norden von Afghanistan in Gefangenschaft. Sein Schicksal ist unklar

Unter den Gefangenen der afghanischen Nordallianz ist auch ein „amerikanischer Taliban“. Der 20-jährige John Philip Walker Lindh wurde in der Festung Kalai Dschangi bei Masar-i Scharif festgenommen, als sich 80 Taliban-Kämpfer, die sich über eine Woche dort verschanzt hatten, ergaben. Zwei weitere US-Bürger sollen sich unter den Gefangenen befinden; ihre Namen gab das Verteidigungsministerium in Washington bislang nicht bekannt.

Nach einer Revolte in einem von der Nordallianz kontrollierten Gefangenenlager waren die Taliban-Kämpfer in ein unterirdisches Gewölbe geflüchtet. Die Nordallianz hatte das Kellergewölbe geflutet und so die Kämpfer zur Aufgabe gezwungen. Walker, der in Fernsehaufnahmen ausgemergelt und abgerissen wirkte und einen Bart trug, erlitt Verletzungen durch Granaten und Kugeln und wird zurzeit medizinisch behandelt.

Marilyn Walker, seine vom Katholizismus zum Buddhismus konvertierte Mutter, bezeichnete in einer ersten Reaktion gegenüber der Tageszeitung Washington Post ihren Sohn als ein „süßes und schüchternes Kind“. Sie zeigte sich schockiert über die Nachricht, dass er auf Seiten der Taliban kämpft. Ihr Sohn habe vorgehabt, in die USA zurückzukehren und Medizin zu studieren, um den Armen in Pakistan zu helfen. Walker wurde in Fairfax, Kalifornien geboren. Seine Eltern nannten ihn nach dem Beatle John Lennon.

Vor vier Jahren konvertierte John Walker zum Islam, nachdem er die Autobiografie von Malcolm X gelesen hatte und die Schule abbrach, um sich religiösen Studien zu widmen. Seit diesem Zeitpunkt nannte er sich Abdul Hamid. Auf seiner spirituellen Suche, die ihn durch die arabische Welt führte, gelangte er nicht auf direktem Weg zu den Taliban. Er verließ die USA vor zwei Jahren und ging zuerst in den Jemen, um den Islam zu studieren. Von dort aus reiste er weiter nach Pakistan und schrieb sich in eine Koranschule ein.

Der Kontakt mit Unterstützern der Taliban und ihrer fundamentalistischen Auslegung des Korans berührte ihn tief. In einem aktuellen Interview mit der amerikanischen Zeitschrift Newsweek sagte er, er habe Pakistan verlassen, um sich den Taliban anzuschließen und ihnen bei dem Aufbau eines „reinen islamischen Staates“ zu helfen.

In der afghanischen Hauptstadt Kabul schickten ihn die Taliban seinen eigenen Angaben zufolge zunächst in ein Ausbildungslager der Kämpfer von Ussama Bin Laden, da er keiner Landessprache mächtig war. Seine nächste Station war Kaschmir, wo er auf pakistanischer Seite gegen Indien kämpfte. Seit sechs Monaten war er wieder in Afghanistan.

Als die US-Bombardements begannen und die Nordallianz auf Kabul vorrückte, wurde er mit 3.000 anderen Taliban-Kämpfern gefangen genommen. John Stufflebeem, US-Konteradmiral, erklärte gestern, dass der Status der inhaftierten Amerikaner noch nicht geklärt sei. Ein Prozess gegen einen US-Bürger, der auf Seiten der Taliban gekämpft habe, könne schwierig werden, sagte Stufflebeem.

Die von US-Präsident George W. Bush angekündigten Militärgerichte sollen bislang nur für ausländische Staatsbürger zuständig sein. Eine Hochverratsanklage gegen John Walker würde zudem bedeuten, dass zwei Zeugen gegen ihn aussagen müssten. HARRY THOMASS