Aalglatt verliert

Robert Lepages The Far Side of the Moon auf Kampnagel  ■ Von Annette Stiekele

Zwei Brüder. Welten voneinander entfernt. Philippe, der Ältere, ist ein lebensuntüchtiger Endlosstudent, der eine tiefe Faszination für den russischen Wissenschaftler Konstantin Tsiolkovsky – Erfinder des Weltraumaufzuges – hegt. Sein Bruder André ist ein gefühlsarmer Wetteransager im TV. Oberflächlich und schwul, deshalb nennt ihn Philippe „sorgenfrei, reich und glücklich“, André wiederum hält Philippe für einen „Loser“. Die beiden reden konsequent aneinander vorbei. Und dennoch sind sie Brüder. Erst der Freitod der nierenkranken Mutter zwingt das ungleiche Geschwisterpaar, Kontakt aufzunehmen.

Aus diesem kargen Plot webt der francokanadische Theatermagier Robert Lepage einen suggestiven Theatertraum, in dem er abwechselnd die beiden Brüder, die Mutter und noch weitere Personen verkörpert. Lepage, 1957 in Quebec geboren, genießt weltweit einen Ruf als außergewöhnlicher Film- und Theaterschaffender, Autor und Schauspieler. Hierzulande ist er vor allem durch sein Theaterstück Der Polygraph und den verrätselten Film Le Confessional von 1995 bekannt. Sein Thema ist die Verschmelzung von Theater, Wissenschaft und Neuen Medien. Mit ihrer Hilfe erzählt er phantastische Geschichten über die verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Wahrheit.

Für die Verwirklichung seiner Träume schuf Lepage 1993 zusammen mit befreundeten Künstlern aus Theater, Film, Malerei und Video die Theatergruppe „Ex Machina“. Mit seinem Soloabend The far side of the moon, der mit überwältigendem Erfolg beim letztjährigen Festival „Theaterwelten“ in Berlin zu sehen war, ist Lepage jetzt zu Gast am Hamburger Schauspielhaus. Aus technischen Gründen musste die Aufführung allerdings auf die große Kampnagelhalle k6 ausweichen. Dort ist sie drei Tage lang in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln zu sehen.

Für Lepage ist es wichtig, „dass man als Schauspieler ein Stück aus seiner eigenen Realität, aus der eigenen Mythologie, aus dem eigenen Innersten heraus schreibt“. Die persönliche Ebene dient ihm dazu, eine viel größere Geschichte zu erzählen. In The far side of the moon bricht er das große Thema des russisch-amerikanischen Wettlaufs im All auf den Bruderkonflikt herunter. In der Geschichte haben die Amerikaner auf der Ebene der Weltraumtechnik längst gewonnen, bei Lepage aber siegt am Ende der träumerische Bruder über den großkotzigen Wetterfrosch, den man sich mit allen wenig schmeichelhaften Attributen eines Durchschnittsamerikaners denken kann.

Immer wieder verweist Lepage dabei mit Video- und Toneinspielungen vom Apollo-11-Flug, von Jurij Gagarins Sputnik-Flug, Alexej Leonows Allspaziergang und einem Mondrover-Ausflug auf die höhere Ebene seines Stücks. Mit geradezu kindlichem Ernst erschafft er eine imaginäre Wirklichkeit in einer Symbiose aus Musikeinspielungen, Videokunst und Performance - und einer kräftigen Prise Puppenspiel. Da verwandelt sich die Luke einer Waschmaschine erst in ein Aquarium mit Goldfisch, dann in eine Uhr und schließlich ins Startloch zum Universum. Ein Bügelbrett wird zum Fitnessgerät, zur Rakete, zum Moped. Und über allem liegt entweder gespens-tische Ruhe oder die elektronisch verzerrte Violine von Laurie Anderson.

Es ist aber nicht allein die hohe Schule der Theatertechnik, die sich Lepage zunutze macht. Er erzählt eine im Grunde einfache Geschichte in grandiosen Bildern. „Es gibt viele technische Möglichkeiten, die man ausprobieren muss. Theater muss filmischer werden“, sagt Lepage, wohl wissend, dass die Möglichkeiten im Film größer sind. Filmische Qualitäten auf eine Theaterbühne zu übertragen – dieser Herausforderung stellt sich seine Kunst. Für The far side of the moon errichtet er eine riesige Bühne, sieben Meter breit, zweieinhalb Meter hoch. Anders als Robert Wilson, mit dem er oft verglichen wird, schafft er jedoch keine plakative Künstlichkeit. Ihm geht es immer um den Menschen, der mit seiner Existenz ringt. Seine Geschichten kommen ohne große Gesten aus. Lange reden die Brüder aneinander vorbei. Und dazu füllt Lepage mit seinem Monolog allein die große Bühne.

Erst am Ende finden sie in einer kurzen, zarten Begegnung zueinander. Bevor sich der Ost-West-Konflikt in einer Art Sprung ins All auflöst. Lepage träumt den kindlichen Traum von einer Weltversöhnung. Und wir sind eingeladen, mitzuträumen.

6.–8.12., 20 Uhr, Kampnagel (k6)