Im Westen angekommen

Wer regiert, muss Realpolitik machen. Auch die PDS. Wird die Ex- Oppositionspartei daran scheitern? Im Gegenteil: Sogar eine Koalition auf Bundesebene wäre möglich

Schon bald wird die PDS den ersten Ministerpräsidenten stellen (voraussichtlich in Sachsen)

An eine ordentliche Lebensplanung ist bei Gregor Gysi derzeit nicht zu denken. Im Frühsommer noch bereitete sich der PDS-Star auf eine Zukunft als Promianwalt vor, da drängte ihn seine Partei zu einer Kandidatur bei den Berliner Wahlen. Bis Dienstag sah es dann so aus, als könne er dem Privatleben frönen. Denkste. Gysi wird zwar nicht Bürgermeister, sondern Senator. Aber neben dem soliden Wowereit wird er wohl zum Star der Hauptstadtpolitik avancieren.

Statt Privatmann weiter Frontmann, statt Gerichtssaal wieder Talkshow. Mit Gysis Sprung auf die Berliner Bühne scheinen alle ideologischen Barrieren zu fallen. Wahlerfolge der PDS werden immer selbstverständlicher, die PDS stellt in Ostdeutschland Stadträte, Landräte, Minister. In Brandenburg eroberte sie bei den Bürgermeisterwahlen in diesem Monat mehr Rathäuser als die CDU. Niemand zweifelt mehr daran, dass die PDS wieder in den Bundestag einzieht. Die PDS ist ein bundespolitischer Machtfaktor. Aber was für einer? Und wie lange?

In Berlin wird die PDS zunächst beweisen müssen, dass sie die Gewerkschaften knebeln, dem öffentlichen Dienst standhalten und den Ostberlinern soziale Grausamkeiten nahe bringen kann. Sie wird der Stadt erklären, warum die Privatisierung der Berliner Bankgesellschaft die Welt dem Sozialismus näher bringt. Damit keine Zweifel aufkommen: Die rot-rote Koalition wird zustande kommen und fünf Jahre halten. Schließlich hat die PDS den Berliner Wahlkampf nicht mit Populismus bestritten, sondern mit dem konkretesten Sparprogramm. Die Ostberliner PDS-Wähler sind bereit, für ein bisschen Rehabilitierung ihren Preis zu zahlen. Was an Unmut bleibt, wird Senator Gysi mit munteren Reden und selbstbewussten Visionen wettmachen.

Die PDS hat in den letzten Monaten einen realpolitischen Crashkurs durchgezogen, sich für die Mauer entschuldigt und für die Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Sie hat die DDR fast vollständig delegitimiert. Zumindest ihre Abgeordneten haben die Zwänge eines überschuldeten Haushalts akzeptiert und nachvollzogen, dass moderne Großstadtpolitik mehr ist als Mieterberatung und behutsame Stadterneuerung. Die Basis macht murrend, aber diszipliniert mit. Die PDS wird der Privatisierung von landeseigenen Betrieben zustimmen, der Schließung von Kindertagesstätten und der Verlängerung des Ladenschlusses. Am Ende wird die PDS im Westen angekommen sein, aber über ihren Platz im Parteiensystem wird woanders entschieden.

Wer sich für die Zukunft der PDS interessiert, der sollte nicht nach Berlin blicken, sondern nach Magdeburg und Schwerin. In Sachsen-Anhalt wird am 21. April und in Mecklenburg-Vorpommern an 22. September gewählt; in beiden Ländern stimmen die Wähler auch darüber ab, ob sich die Machtbeteiligung der PDS, ob sich Realismus und Realpolitik auszahlen. In Magdeburg schwächelt die SPD, und die Schill-Partei konkurriert als neue Protestpartei mit der PDS. In Schwerin hingegen schwächeln die Sozialisten selbst. Der stellvertretende Ministerpräsident Helmut Holter gerät vor allem mit Affären in die Schlagzeilen. Die Einführung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors ist hingegen gescheitert; statt über ABM zu sprechen, preist Holter das freie Unternehmertum, damit überhaupt ein paar Arbeitsplätze entstehen.

Gelingt es der PDS in Magdeburg und Schwerin nicht, die Macht zu behalten, werden alle, voran die Sozialdemokraten, die Entzauberung der PDS feiern. Auch in Berlin wären Gysi und Co. dann ein Auslaufmodell. Doch so weit wird es nicht kommen. Innere Sicherheit ist im Osten kein Wahlkampfthema; und sollte Schill gefährlich werden, wird sich die PDS schnell mit härteren Gesetzen zur Terrorismusbekämpfung anfreunden. Dass es ökonomisch nicht vorangeht, dafür wird die PDS die „gescheiterte“ Bundesregierung verantwortlich machen. Die PDS wird sich behaupten und damit die nachholende Modernisierung der ostdeutschen Linken und die Transformation einer realsozialistischen Staatspartei in die kapitalistische und liberale Gesellschaft abschließen. Aus der SED ist eine ostdeutsche Variante der Sozialdemokratie geworden – ein wenig ideologischer und volksnäher, aber genauso machtbewusst und pragmatisch. Schon bald wird die PDS den ersten ostdeutschen Ministerpräsidenten stellen (voraussichtlich in Sachsen). Für Schröder ist sie nach der FDP die zweite Machtreserve.

Eine Koalition auf Bundesebene würde auch durch die Friedensfrage nicht verhindert. Der Anti-Kriegs-Kurs der PDS ist eine Mogelpackung. Während die Basis gegen den Krieg demonstriert, spotten die Parteioberen über deren „Liebknecht-Syndrom“. Sie plädieren für eine realistischere Außenpolitik. Bis zu den Bundestagswahlen wird darüber nicht diskutiert, weil der Anti-Kriegs-Kurs Stimmen bringen soll, vor allem im Westen. Erst danach wird die letzte Bastion des Fundamentalismus in der PDS geschleift.

Die PDS-Basis demonstriert gegen Krieg, die Parteioberen spotten über dieses „Liebknecht-Syndrom“

Um die ostdeutsche Partei zu verstehen, hilft es, sich an die westdeutsche Geschichte der Sozialdemokratie zu erinnern. Am 14. November 1975 zum Beispiel traf sich die SPD in Mannheim zu einem Parteitag. Helmut Schmidt war schon Kanzler, Willy Brandt nur noch SPD-Vorsitzender, die erste Ölkrise hatte das Land hinter sich, den heißen Herbst vor sich. Gerhard Schröder arbeitete nicht als „Genosse der Bosse“, sondern als „Marxist“ und „Sozialist“ gerade an seiner Karriere bei den Jusos. Im November 1975 trafen sich also die Genossen von der SPD und beschlossen den „ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985“. Dies war kein weltbewegendes Dokument, eher ein Allerweltsbeschluss. Selbstbewusst fordern die Sozialdemokraten darin, „die Verfügungsgewalt in der Wirtschaft demokratisch legitimierter Kontrolle zu unterwerfen“, „den Schwächsten in der Gesellschaft einen menschenwürdigen Lebensraum zu gestalten“, und sie fordern eine Politik der „aktiven Friedenssicherung“. Schließlich waren Sozialdemokraten damals noch überzeugt: „Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe.“ Schöner könnte es die PDS heute auch nicht formulieren, bei ihr heißt es „der Sozialismus ist Ziel, Weg, Bewegung und Wertesystem“. SPD und PDS stehen sich mental viel näher, als sie wahrhaben wollen. Die SPD hat sich in den letzten Jahrzehnten modernisiert, die PDS holt dies in schnellem Tempo nach. Dennoch wird am Ende dieses Prozesses nicht die Vereinigung der beiden Linksparteien stehen. SPD und PDS werden sich bei dosierter Konkurrenz auf wahltaktische Absprachen beschränken, um unterschiedliche Milieus ansprechen zu können. Wie lang das gut geht? Bis CDU und CSU wieder dran sind.

CHRISTOPH SEILS