Die Zeit zwischen den Fingern

„Es ist keine Koketterie, wenn ich sage, dass ich Daumenkinograph bin“: Durch seine Faszination am Augenblick hat Volker Gerling vom Filmemachen zur bewegten Fotosequenz zurück gefunden. Die Galerie „Luna International“ zeigt seine Arbeiten.

von TOBIAS HERING

Volker Gerling entnimmt einer Schatulle aus festem Karton einen sauber gebundenen Stapel von Schwarzweißfotografien, die an der Falz von kleinen Messingschrauben zusammengehalten werden. Zuoberst ein Bild, das ihn selbst mit erregtem Blick im Wagen einer Achterbahn zeigt. Er lässt den Stapel an seinem Daumen entlangfahren, die Erregung wird lebendig, das Gesicht kommt in Fahrt, der Mund öffnet sich, während der Hintergrund vorbei fliegt und die Konturen sich für Momente verlieren. „Ich habe das Medium gefunden, das mir entspricht“, sagt Volker Gerling. Noch bis Dienstag sind seine Daumenkinos in der Galerie „Luna International“ im Prenzlauer Berg zu sehen.

Seit 1995 macht er an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg eine Ausbildung zum Kameramann. Während des Studiums hat er zwar bereits Spiel- und Dokumentarfilme gedreht, die Diplomarbeit, an der er gerade arbeitet, ist jedoch ganz dem Daumenkino gewidmet, das für ihn „die Wiederentdeckung eines unterschätzten Mediums“ ist.

Während der Film dahin tendiere, die Illusion technisch zu perfektionieren, mache das Daumenkino aufmerksam auf die Lücke zwischen den Bildern. „Ein Film ist ein geschlossenes zeitliches Getriebe. Das Daumenkino ist dagegen offen für die Wahrnehmung der Zeit.“ Indem es die Kontinuität als Illusion sichtbar macht, ist das Daumenkino gleichsam auf Augenhöhe mit der Realität. Das haptische Moment verstärkt diese Nähe noch: „Mit dem dünner werdenden Stapel spürt man zwischen den Fingern die Zeit verrinnen.“ Weil das Daumenkino im eigenen „Körperraum“ stattfindet, kann der Betrachter es seinem Eigenrhythmus anpassen. „Man ist Vorführer, Zuschauer und Kino zugleich und kann den Film jederzeit mit sich herumtragen.“

Viele seiner Daumenkinos sind Portraits von Menschen. Sie wissen meist nicht, dass die Kamera nicht nur einmal auslöst, sondern in zwölf Sekunden einen ganzen Film verschießen wird. „Ich nenne die Daumenkinos, die ich von Menschen mache, ‚fotronomisch‘: während die Kamera drei Bilder pro Sekunde macht, wirkt sie wie ein Metronom, das den Bewegungen einen Rythmus unterlegt.“ Auf den ersten Bildern dieser „fotronomischen“ Daumenkinos erkennt man die Überraschung in den Gesichtern.

Darauf folgt meist ein kurzer Moment der Scham vor der Kamera, die nicht still hält. Was dann passiert, interessiert Gerling am meisten, der Moment, in dem sich die Portraitierten der Kamera unterwerfen und etwas von sich zeigen. „Es hat etwas Brutales“, sagt er entschuldigend und erzählt von seinem ersten Daumenkino, das auf einem Neujahrsspaziergang mit einer Freundin entstanden ist. Es war vereinbart, dass die Frau „Bäumchen wechsel dich“ spielt, während Volker Gerling sie fotografiert. Als sie sich nicht ganz an die Absprachen hielt, wurde Gerling vor Aufregung etwas zu laut. Der dann folgende verärgerte Abgang der Freundin vor der immer noch auslösenden Kamera war das eigentliche Ereignis für ihn. „In diesem Moment ist etwas sehr Reales passiert und dem wollte ich nachgehen.“

Er hat seine Beobachtungen und Erfahrungen mit Theorien über die Zeitwahrnehmung verglichen und erstaunliche Parallellen entdeckt. Verhaltensforscher gehen davon aus, dass wir den Gegenwartsmoment als eine Zeitspanne von etwa drei Sekunden erleben. Schon bei den ersten der kleinen Filme ist Gerling aufgefallen, dass die Szenen sich wie von selbst an den Zwölfsekundenrahmen halten. Da die Kamera drei Bilder pro Sekunde macht, müsste unserer Zeitwahrnehmung nach alle neun Bilder ein Moment abgeschlossen sein. Tatsächlich lassen sich an vielen Daumenkinos genau in diesen Abständen kleine Veränderungen erkennen: „Jede Geste ist für mich wie ein Geschenk“, sagt Gerling und lässt vor meinen Augen das Portrait einer Frau durch die Finger surren. Ein Augenaufschlag gewinnt eine magische Schönheit, wenn er das einzige Ereignis in einer zwölfsekündigen Sequenz ist. „Es hat auch etwas Erotisches.“

Einige der Daumenkinos zeigen dokumentarische Motive ohne Menschen: etwa eine Plattenbaufassade in Hohenschönhausen, bei der Gerling seine Regeln gebrochen und eine Langzeitdokumentation hergestellt hat. 17 Stunden hat er an der gleichen Stelle ausgeharrt, um in dieser Zeit 54 Bilder zu machen. Ein anderes dokumentarisches Motiv zeigt eine nächtliche Straßenkreuzung. Eine Lichterkette buchstabiert die Jahreszahl: 2000. „Der Moment, den man als Start für die zwölf Sekunden setzt, ist unglaublich erregend. Ein Sprung in die Zeit hinein, wie ein Sprung von einer Klippe.“

In diesem Fall hat Volker Gerling die Kamera sechs Sekunden vor dem Jahrtausendwechsel ausgelöst. Welcher Moment hätte besser geeignet sein können für die Neugier, was kommen mag? Etwa in der Mitte der Szene steigt eine einsame Rakete in den Nachthimmel und ist pünktlich zum 36. Bild verglüht. Sogar hier hielt sich die Zeit auf unheimliche Weise an die rhythmischen Vorgaben des Daumenkinos.

Heute und morgen 12 bis 19 Uhr und nach Absprache in der Galerie Luna International, Kopenhagener Straße 35, Prenzlauer Berg. Finissage am Dienstag, 11.12., um 20 Uhr