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Auf der Strecke bleiben

Der Zugpassagier als Dummy der weltumspannenden Eisenbahnforschung

Als regelmäßiger Kunde derDeutschen Bahn ist man nichtPassagier, sondern Proband

Eisenbahnforschung war bis jetzt das Projekt einer geheimen Wissenschaftsloge. Allerdings – und das ist dem schienengebundenen Forschungsfeld wesenhaft – handelt es sich um eine global vernetzte beziehungsweise eben verschiente Gruppe verdeckt forschender Geheimräte. Ende November traten sie auf dem „Weltkongress für Eisenbahnforschung (WCRR)“ erstmals an die Öffentlichkeit, um den wirklichen Zweck ihrer Arbeit zu verschleiern. Sie können nicht wollen, dass die tatsächlichen Ziele und Resultate ihres gigantischen Wissenschaftsexperimentes offengelegt werden. Damit würden sie sein gleichzeitiges Ende heraufbeschwören. Die Verschwörer werden das nicht riskieren.

Dass es Eisenbahnforschung gibt, wussten nicht viele, ahnten aber einige. Wie viele, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, persönlich kenne ich nur einen: mich. Mir schwant seit langem, dass ich als regelmäßiger Kunde der Deutschen Bahn in Wirklichkeit nicht Passagier, sondern Proband bin. Ein zum Zwecke seiner Er- und Ausforschung beförderter Aufrechtsäuger. Langzeitbeobachtetes Elementarteilchen. Rail-Test-Dummy.

Und ich bin sicher, dass außer mir auch alle anderen am Hin-und-Herfahren mit der Eisenbahn beteiligten Menschen nichts anderes sind als Komponenten einer riesigen Versuchsanordnung. Fragmente einer Masse, die unter der Simulation triebwagengesteuerter Mobilität observiert wird.

Die Eisenbahnforschung ist disziplinübergreifend. Ingenieure sind an ihr beteiligt, Dienstleistungsexperten, Lebensmittelchemiker, Fahrplanmathematiker, Hygienefachleute, vor allem aber Sozio- und Psychologen. Sie alle eint ein großes Forschungsziel: Den scheinbar von A nach B führenden Weg des Passagiers als nicht enden wollenden Prozess aufrechtzuerhalten. Einen Kreislauf zu schaffen, der nur durch sich selbst existiert. Der niemals endet, und sei seine Funktion durch noch so viele Störfaktoren gebremst, gerührt oder geschüttelt.

Liefe oder ginge der Mensch seiner Wege, gäbe es keine nennenswerten Kreislaufprobleme. Das tut er aber nicht. Er will gefahren werden. Ihn gilt es also, an seine Belastungsgrenzen zu transportieren, diese nach und nach auszudehnen und im Idealfall ins Unendliche noch zu steigern. Der Passagier ist das objektiv notwendige Übel, das subjektiv büßen muss für die Unvermeidlichkeit seiner alles durcheinanderbringenden Existenz.

Seinetwegen muss dauernd angehalten werden. Für ihn müssen schwer verdauliche Speisen und warme Kaltgetränke zu erstaunlichen Preisen vorrätig gehalten, unverständliche Lautsprecherdurchsagen in noch nicht erfundenen Fremdsprachen genuschelt werden. Er ist es, der Toiletten so verschmutzt, dass sich ein Saubermachen gar nicht mehr lohnt. Für ihn müssen unausdenkbare Fahrpreistarifsysteme ausgedacht und Sitzplatzreservierungsangebote vorgetäuscht werden.

All das ist die eigentlich der Loge der Welteisenbahnforscher unzumutbare, schreckliche Wirklichkeit. Wobei – und das ist die logische Unlogik dieser Geheimwissenschaft: Ohne die Existenz des zugrunde zu richtenden Passagiers hätte sie gar keine Existenzgrundlage. Das Paradies der Eisenbahnbetreiber, der völlig entmenschte, ohne Passagiere reibungslos nur für sich selbst fahrende Schienenverkehr ist ökonomisch nicht zu legitimieren. Deswegen muss die Forschung den Passagier in ihrem Sinne zu Ende optimieren. Eine Aufgabe, der wir uns nicht entziehen können. Mag er noch so unwürdig sein, der Versuch am lebenden Menschen ist ohne Alternative. Die Bahn muss fahren. Wir müssen und wollen auf der Strecke bleiben. FRITZ ECKENGA

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