Deckname: Realpolitik

DER NEUE PAZIFISMUS (4): Eine aufgeklärte Alternative zum Krieg muss klären, welche Gewalt unter welchen Umständen für die Erreichung welcher Ziele zulässig ist

„Verantwortung“ oder „Menschenrechte“ stehen für die Herrenmoral der Eliten der reichen Teile der Welt

In Kriegszeiten vereinfachen sich die Dinge – entweder man ist dafür oder dagegen. Diejenigen, die für den Krieg sind, nennen das „Realpolitik“; die Gegenposition wird als „Pazifismus“ bezeichnet. Doch dieser Pazifismus ist ein Pappkamerad, den sich die Realpolitik bastelt wie jene „Friedensforscher“, die sich der Kriegs- und Regierungsberatung widmen. Leitartikelnde Privatdozenten deklinieren dem Publikum einen vereinfachten Clausewitz durch: Krieg und Bürgerkrieg sind einfach da, wir müssen nur Ziele definieren und die Frage beantworten, wie die Nachkriegszeit gestaltet werden soll.

Tatsächlich ist diese Form der Realpolitik längst zu dem geworden, was Kant ein „ehrloses Strategem“ genannt hätte. Der Krieg als Modus der Lösung von Konflikten, die sich je nach Optik als Bürgerkriege, private Bandenkriege oder Terror darstellen, hat seine Ineffizienz weltweit ebenso bewiesen wie der Krieg zwischen Staaten. Diese hielten die Option, ihre Armee jederzeit gegen die eines anderen Staates zu mobilisieren, als Passepartout in der Hinterhand und definierten das als Friede. Und auch wenn diese kriegerische Großoption im Laufe der Zeit zur Ultima Ratio abgemildert wurde, ändert sich nichts an der Bilanz dieser Form der Realpolitik: Sie schuf keine stabilen und gerechten Ordnungen. Im Gegenteil: Ihr Erfolg ist an der Zahl der militärischen und zivilen Opfer auf den Friedhöfen der Welt abzulesen.

Auch auf die neuen Bedrohungen – Bürgerkrieg und Terror – hat die Realpolitik nur eine Antwort. Sie beschwört die ultimative Katastrophe, schreit „Auschwitz“, „Srebrenica“ oder „Menschenrechte“ und sucht so jede andere Form der Herangehensweise als verantwortungslose Schwärmerei zu denunzieren. Die Realpolitik lenkt damit davon ab, dass ihr vermeintlich professionelles und realistisches Spiel mit Begriffen wie Interessenpolitik, Verantwortung, Staatengemeinschaft oder auch Machtpolitik bisher nichts dazu beigetragen hat, Kriege zu vermeiden, Bürgerkriege zu befrieden oder Terrorbanden rechtzeitig polizeilich zu bekämpfen.

Pazifistischen Konzepten zur Kriegs- und Bürgerkriegsprävention sowie Konfliktlösung vorzuwerfen, sie seien undurchführbar, ist billig. Wenn durch Versäumnisse, Zeit- und Sachzwänge erzeugte Kriege und Bürgerkriege toben wie in Bosnien und in Afghanistan, stellt die Realpolitik dann die Gretchenfrage der Intervention: Kostete das Nichteingreifen im Bürgerkrieg zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda nicht 400.000 Menschen das Leben? Die vorletzte Vernunft – ein aufgeklärter Pazifismus – wird erst gefragt, wenn das Kind im Brunnen liegt.

Aufgeklärter Pazifismus ist das Gegenteil einer Moralisierung von Politik, denn er verlangt – gegen eine irrationale und immer hinterherhechelnde Realpolitik – von vornherein die Rationalisierung von politischen und militärisch-polizeilichen Mitteln und Zielen. Rationalisierung muss hier in einem doppelten Sinne verstanden werden: Gewaltanwendung maximal zu beschränken und politische wie militärisch-polizeiliche Ziele an argumentativ nachprüfbare Gründe anzubinden. Unter militärischer Zensur wie im Golfkrieg 1991 oder heute ist das nur beschränkt möglich. Deshalb gedeiht momentan die Realpolitik im Namen einer beliebig herzitierbaren „Verantwortung“ oder irgendwelcher „Menschenrechte“ – Decknamen für die Herrenmoral der politischen und wirtschaftlichen Eliten in den reichen Regionen der Welt. Diese Eliten können es sich leisten, allem Elend und Unrecht zuzuschauen, bis es vor der Haustür brennt oder eigene Interessen tangiert sind. Denn nur in diesem Fall lohnt sich für sie die militärische Intervention.

Aufgeklärtem Pazifismus kann man nicht vorwerfen, er wolle Kriegen, Bürgerkriegen und Terrorbanden tatenlos zuschauen, denn er lehnt Gewaltanwendung nicht absolut ab. Genau das unterscheidet ihn von den religiösen Friedensfreunden, die die Heiligkeit des Lebens gegen den Krieg ins Feld führen. Bedingungslose Ablehnung von Gewalt ist kein rational begründbarer Standpunkt, da sie sich nicht auf verallgemeinerbare Normen beruft, sondern auf Dogmen, die nur Gläubige akzeptieren. Wer das Dogma der Heiligkeit des Lebens befolgt, gerät schon bei einem Angriff, der Notwehr nahe legt, in einen Selbstwiderspruch. Er kann sich nicht mit angemessenen Mitteln wehren, den Angreifer zurückschlagen und notfalls töten.

Aufgeklärter Pazifismus lässt sich dagegen auf Begründungen ein, um zu klären, welche Gewalt unter welchen Umständen für die Erreichung welcher Ziele zulässig ist. Das ist – anders als das in simplen Alternativen und Interessenkalkülen befangene realpolitische Denken – eine argumentativ anspruchsvolle Angelegenheit. Die Frage, welche Mittel man für welche Ziele riskieren und verantworten kann, liegt zwar auch im Horizont realpolitischen Denkens. Aber dieses immunisiert sich gegenüber der Komplexität der Frage und stellt sie erst, wenn es zu spät ist. Mit ihrer dualen Arithmetik – Zuschlagen oder Noch-nicht-Zuschlagen – vernagelt sich Realpolitik den Blick auf die Voraussetzungen von Frieden.

Aufgeklärter Pazifismus fragt kurz-, mittel- und langfristig nach den ökonomischen, sozialen, politischen und militärisch-polizeilichen Bedingungen der Kriegsprävention und des globalen Friedens. Realpolitik agiert dagegen im engen Zeithorizont einer Legislaturperiode im eigenen Land und entscheidet nach Wahl- bzw. Wiederwahlaussichten, auf der Basis welcher Kriterien sie wann und wozu militärische Gewalt einsetzt. Nirgendwo wurde das deutlicher als im Roulett der europäischen Intervention und Nichtintervention im Bürgerkrieg auf dem Balkan.

Der Krieg als Modus der Lösung von Konflikten hat seine Ineffizienz weltweit hinreichend bewiesen

Wie irrational Realpolitik sich zeitweise darstellt, belegt die Bombardierung Afghanistans. Damit sollten Terrorbanden getroffen werden, die von Europa und den USA aus operieren. Zur Rechtfertigung solcher Kriegsführung wird nachgeschoben, die Bomben hätten der Entschleierung der Frauen oder der Ernährung von Flüchtlingen gedient. Dafür gibt es Hinweise, deren Evidenz und Haltbarkeit sich allerdings – jenseits der Propaganda – noch erweisen muss. Vor allem aber verschiebt Realpolitik mit der Behauptung, wir könnten nicht zuschauen, wie Menschen umgebracht werden, die Verantwortungsverhältnisse. Für die permanente Missachtung von Menschenrechten, für jahrelang geduldete Kriege und Bürgerkriege soll nun plötzlich der Fernsehzuschauer mithaftbar gemacht werden.

Konformistische Medienintellektuelle gruppieren sich im Namen des reinen Dabei-sein-Müssens zu Blasebälgen, die den Bürger zum virtuellen Kriegsherrn proklamieren: Weil die da oben dabei sein wollen, müssen wir hier unten auch mitmachen. Die Versäumnisse der Realpolitik bei der Kriegs- und Bürgerkriegsprävention sowie ihre Verantwortung für das Gewährenlassen und die treibhausmäßige Züchtung von Terrorbanden werden nachträglich kollektiviert. Alle sollen wollen, dass wir jetzt etwas machen müssen – irgendwo oder überall und allemal subito. RUDOLF WALTHER