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Die Banalität der Verzweiflung

Ein Scheitern ohne Metaphysik und ohne Schrei: Vor 200 Jahren wurde Christian Dietrich Grabbe geboren. Jörg Aufenanger schrieb seine Biografie

Sein Held Theodor von Gothland gähnt, bevor er ermordet wird: „Das ist mir einerlei“

von LUDGER LÜTGEHAUS

„Einmal auf der Welt, und dann ausgerechnet als Klempner in Detmold“: Das witzigste aller Grabbe-Zitate, das nach den „Ketzereien“ von Günther Anders die wenig komfortable Situation umreißt, an einem Unort in einer x-beliebigen Rolle in die Welt hineingeboren zu sein, spannt auf tragikomische Weise das ganze Große mit dem Provinziellen zusammen. Doch zu einem honorigen Gewerbe wie dem des Klempners hat Grabbe es nicht einmal gebracht. Weit schlimmer stand es um ihn: einmal auf der Welt, und dann als Dichter in Detmold!

Immer wieder wollte er ausbrechen aus dem Verhängnis, dem Gefängnis, das für ihn den Namen seiner auf das innigste geschmähten Geburtsstadt trug – zu Anfang des 19. Jahrhunderts einer kleinen, verhockten und verspießerten Residenzstadt, ausgestattet immerhin mit einem keineswegs schlechten Residenztheater, an dem unter anderen Albert Lortzing Karriere machte. Zweimal ist Grabbe geflohen. Zweimal musste er kläglich zurückkehren. „Zu langjährigem Detmold verurteilt“, hat der Dichterkollege Wulf Kirsten über ihn geschrieben. In Detmold hat er sich zu Tode gesoffen. Seine Briefe signierte er beizeiten mit einem lateinischen Wortwitz: „sepulcrum + b“, sollte heißen „Grab.be“.

Christian Dietrich Grabbe hat es niemandem je leicht gemacht, sich für ihn zu interessieren, ihn gar zu mögen. Er war unselig und wollte es schließlich sein. Die bedeutenden Förderer, die er durchaus fand (Tieck, Immermann), hat er alsbald nach Kräften wieder vergrault. Manche Biografen haben wenig Gutes an ihm gelassen. Aber es gab auch einfühlsamere Stimmen. Die Biografie von Jörg Aufenanger, die zum 200. Geburtstag des am 11. Dezember 1801 in Detmold geborenen Grabbe erschienen ist, verbindet Empathie mit Klarsicht. Dass Aufenanger Grabbe und sein Werk liebte, wäre zu viel behauptet. Es wäre auch gar nicht in Grabbes Sinn gewesen, zu dessen gut entwickelten Neigungen es gehörte, die Menschen in demselben Maß vor den Kopf zu stoßen, wie er mit sich selbst nicht in Frieden leben konnte. Provokationen, Zynismen, Rüpeleien – die Methoden, sein Unglück zu verbergen – gingen mit einem sorgfältig versteckten Liebesbedürfnis und den Exzessen der Selbstverachtung Hand in Hand. Aber Aufenanger zeichnet, ohne je Gefahr zu laufen, sich noch postum provozieren zu lassen, umsichtig das Leben und die Psychologie Grabbes nach. Vermissen wird man allein eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Werken.

Aufenanger beschreibt eindringlich, welche doppelte Hypothek auf dem Leben des heranwachsenden Einzelkindes lag: die soziale Ächtung als Sohn eines Zuchtmeisters im Detmolder Zuchthaus, eines „unehrlichen“ Berufes fast in der Nachbarschaft des Henkers. Prägender noch die körperliche Stigmatisierung, ein zu großer Kopf auf einem schmächtigen Körper, Säugling und Mumie zugleich.

Grabbe hat unter dieser doppelten Hypothek vehement gelitten. Um sich selber zu schützen, hat er sich in der forcierten, scheinbar selbst gewählten Rolle des Ekels gleichsam eingehaust. Der Alkohol war die Droge, mit der er seine Verzweiflung kurzfristig stillte. Johannes Bobrowskis Gedicht „Grabbe“ äußert eigentlich keine Frage mit der Frage: „Warum säufst du so viel?“ Eine psychoanalytisch orientierte Biografik hat auf dem Hintergrund der nie aufgelösten Mutterbeziehung des ewigen „Säuglings“ Grabbe von seinem „oralen Pessimismus“ gesprochen. Nun ja, recht besehen, war das Orale das Einzige, was diesem Leben, das sich mehr als einmal am Rande der Selbsttötung bewegte, für die Dauer eines Rauschs euphorischere Gefühle gab.

Mit 19 Jahren ist Grabbe, seine monströse Tragödie „Herzog Theodor von Gothland“ im Gepäck, erstmals von Detmold aufgebrochen, aus Detmold ausgebrochen. Nominell studiert er die Rechte in Leipzig und Berlin, tatsächlich tummelt er sich als literarischer Bohemien mit dichterischen und auch schauspielerischen Hoffnungen aufs Theater: ein Nachfahre von Karl Philipp Moritz, dem er in einigem ähnelt. Rundum gescheitert ist der verlorene Sohn, der aus der Ferne ganz andere Nachrichten von seinem unaufhaltsamen Aufstieg ausposaunt hatte, 1823 zu seinen Eltern zurückgekehrt, nächtens, wie ein Verfemter.

Diesen Eltern widmet der Biograf ein geradezu liebevolles Porträt – zu Recht: Sie haben ihrem Sohn eine unerschütterliche Zuwendung geschenkt. Das eigentlich so nahe liegende Klischee, dass zumal einer wie Grabbe nicht ohne Bruch mit seiner Familie, schon gar nicht ohne einen rechtschaffenen ödipalen Vatermord auskommt, wird hier rundum widerlegt.

Die Eltern haben den Gescheiterten vorbehaltlos gestützt, sich von seinen Provokationen in ihrer Zuwendung nicht irre machen lassen. Und irgendwie hat sich in den Monaten nach seiner Heimkehr eine Art von Wunder ereignet: Der verkrachte Student diszipliniert sich für eine Weile, meldet sich zum juristischen Examen, besteht es und avanciert, wenn er es auch nicht zum Klempner bringt, zum Auditeur und Leutnant, dem die gesamte militärische Gerichtsbarkeit im Fürstentum Lippe untersteht.

Diese Funktion füllt er längere Zeit gar nicht schlecht aus. Doch dann will er sich fatalerweise auch bürgerlich konsolidieren. Die 1833 geschlossene Ehe mit der zehn Jahre älteren Louise Clostermeier wird zur Katastrophe von Strindberg’schem Format. 1834 bricht Grabbe ein zweites Mal auf und aus, erst zu seinem Verleger Kettembeil nach Frankfurt, dann zu Immermanns Theater nach Düsseldorf. Im Mai 1836 kehrt der Ausbrecher ein zweites Mal zurück, nun endgültig. Am 12. September 1836 ist er 34-jährig in Detmold gestorben – in den Armen seiner Mutter. Seine Frau hat ihn erst nach seinem Tod akzeptiert.

Was bleibt von der ganzen „Grabbage“ (sein Wort)? Mit einem Genie wie Georg Büchner kann sich der genialische Grabbe nicht messen, aber wer kann das schon, eher schon mit einem wie Friedrich Hebbel, der bei einer noch desolateren sozialen Ausgangssituation um den Preis von Kompromissen den Weg zu sich und in die Welt findet. Die offene Form von Grabbes weniger für als gegen das Theater geschriebenen Geschichtsdramen, vor allem der „Napoleon“- und der „Hannibal“-Tragödie, sichert ihm eine bleibende Aktualität. Seine Modernität ist nicht mit der Verzögerung fast eines ganzen Jahrhunderts erst im zwanzigsten, sondern schon in der so ungenialischen Biedermeierzeit erkannt worden.

Nichts liegt ihm ferner als der Glaube ans Heroische. Wie Büchner ist er „zernichtet“ vom „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“. Die Geschichte ist sinnlos, ohne jede poetische Sinnstiftung, der Mensch ein grausames und absurdes Wesen, vor dem man besser beizeiten auf die Flucht geht. Doch wohin? Ein Scheitern ohne Metaphysik, aber auch ohne Schrei. Der monströseste seiner Helden, Herzog Theodor von Gothland, wie der junge Grabbe öfter etwas renommistisch-nihilistisch, gähnt, bevor er ermordet wird: „Das ist mir einerlei.“ Und fügt noch hinzu: „Ja ja“. Grabbes Lapidarstil. Die Banalität der Verzweiflung.

Jörg Aufenanger: „Das Leben der Verzweiflung“. Fischer, Frankfurt a. M. 2001, 287 Seiten, 24 € (46,94 DM)

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