strafplanet erde: epiktet in pisa von DIETRICH ZUR NEDDEN:
Leben wir nun im Land der aggressiven Schnäppchenjäger und Pay-Back-Punkte-Sammler oder doch angesichts der Einschaltquoten für „Die Manns“ und dem bald wiedereröffneten Goethe-Institut in Kabul in einer wehrhaften Kulturnation? Mir scheint das Erste viel wahrscheinlicher als das Zweite, aber die Wahrheit liegt stets im Auge des Betrachters, oder, um es mit Epiktet zu sagen: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Ansichten über die Dinge.“
Wobei sich hier schon der erste Webfehler ins Textgeflecht eingeschlichen haben könnte, denn ob das Zitat tatsächlich von Epiktet ist oder von Epikur oder Philoktet, dessen bin ich mir nicht sicher. Das macht mich zum Archiv-Beispiel für die Wahrhaftigkeit der Leistungsstudie Pisa, die wie auf Knopfdruck die so genannte Öffentlichkeit alarmiert und – ähnlich wie beim BSE-Kampfhundeskandal – die Fachminister zu „Sofortmaßnahmen“ am, nennen wir es ruhig, Unfallort greifen ließ.
Das Dilemma der deutschen Schule im speziellen Einzelfall: Altgriechisch bis zum Abitur, aber zwanzig Jahre später nicht mehr Epiktet von Platon oder Plotin unterscheiden können. Dabei hatte die Lehrerin ihrem Leistungskurs damals sinngemäß gesagt: „Sie lernen doch hier nicht Griechisch, um hinterher die Vokabeln auswendig zu können, sondern um ein bestimmtes Denken zu verinnerlichen, das Sie für leitende Positionen prädestiniert.“ Hat nicht funktioniert, der Plan ist gescheitert und die Schule selbst musste vor einigen Jahren Konkurs anmelden, das heißt wegen Schülermangels mit einer anderen fusionieren. Dass wir uns alle still verweigert haben, klingt heroisch, wäre aber wahrscheinlich gelogen.
Um bei der Wahrheit zu bleiben und auf die Gefahr hin, der Koketterie geziehen zu werden: Auf der Universität ging es nahtlos weiter. Magister in Germanistik perfekt hingelegt, aber nie „Die Blechtrommel“ oder „Die Buddenbrooks“ fertig gelesen. Einfach nicht gepackt trotz mehrfacher Versuche. Arno Schmidt gefiel mir besser.
Aber die Kulturnation lässt Leute wie mich nicht im Stich und brezelt irgendwann einen TV-Mehrteiler in unsere Richtung wie unlängst „Die Manns“. Pflichtgemäß habe ich die drei Folgen weggekuckt, war okay so weit, nur habe ich nie so richtig Thomas Mann gesehen, sondern immer Armin Mueller-Stahl. Selbstverständlich kramte ich auch die „Buddenbrooks“ wieder vor, doch das Lesezeichen bewegt sich nicht von der Stelle, liegt seit Tagen zwischen Seite 18 und 19. Wenn einer vor nahezu jedem Substantiv mindestens drei Adjektive braucht, wenn einer lückenlos alles in Echtzeit metaphernfrei beschreibt, dann will er mich nicht als Leser.
Wie ich auch niemals die Wochenendbeilage der FAZ namens „Bilder und Zeiten“ komplett inhaliert habe. Trotzdem bedaure ich zutiefst, dass sie eingestellt wird. Schade auch, weil sich das Papier immer so gut angefühlt hat. Einer der letzten Ausgaben verdanke ich immerhin ein schönes Zitat, von dem ich sogar noch weiß, von wem es ist: „Die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation.“
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