Weg mit der EU!

Antikapitalisten proben an der Uni Brüssel den Aufstand für eine bessere Welt

aus Brüssel BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Schlecht bezahlte Jobs gibt es nicht mehr. Hungernde Kinder oder verseuchtes Trinkwasser sind Schnee von gestern. Den ärmsten Ländern der Welt sind die Schulden erlassen. Welthandelsbank, Internationaler Währungsfonds und Europäische Union sind ebenso abgeschafft wie Banken und Großkonzerne. Deshalb gibt es auch keine Autonomen mehr, die große Steine in große Fensterscheiben werfen.

Weihnachten ist die Zeit des Wünschens. Doch die etwa tausend Jugendlichen aus aller Welt, die sich am Samstag, einen Tag nach der Demonstration gegen den EU-Gipfel in Brüssel, in der dortigen Freien Universität versammelt haben, glauben schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann. Deshalb begnügen sie sich nicht mit dem Schreiben von Wunschzetteln, sondern sind zu einer Konferenz gekommen, um eine „neue internationale Jugend-Kampagneorganisation“ zu gründen. Sie sind der Meinung, dass Demonstrieren allein nicht mehr reicht, um dem Kapitalismus den Garaus zu machen. Deshalb also eine Dachorganisation für eine „internationale antikapitalistische Bewegung“ im Rahmen der Antiglobalisierungsbewegung. In einer Gründungserklärung heißt es: „Schluss mit dem globalen Kapitalismus!“ und: „Kämpft für eine neue Welt!“

Die Universität, die in den 60er-Jahren eine Vorreiterrolle bei der Studentenbewegung spielte, sieht aus, als hätte der Kampf schon stattgefunden. Die Flure sind mit Flugblättern übersät, Jungen und Mädchen mit tiefen Ringen unter den Augen reißen sich um billige Croissants, Apfeltaschen und Saft. Begriffe wie „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ und „Bewegung der Arbeiterklasse“ schwirren durch die Luft. Einige sind so erschöpft von der Demonstration am Vortag, dass sie inmitten des französisch-belgisch-englisch-deutsch-griechischen Sprachgewirrs auf dem Fußboden schlafen. Andere kratzen ihre letzten belgischen Francs zusammen, um einen Sticker „Eat the rich“ oder eine Broschüre „Sozialismus leicht gemacht“ zu kaufen. Besonders hoch im Kurs steht das Konterfei von Che Guevara.

Bürgerkrieg und Che Guevara

Doch wie der Kampf für „eine neue Welt“ aussehen soll, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Von naiven Jugendlichen, die reden, als hätten sie DDR-Staatsbürgerkundebücher auswendig gelernt, bis zu ernsthaft argumentierenden Schülern und Studenten ist so ziemlich alles vertreten, was das linke Spektrum hergibt. Ein 14-jähriger Schüler aus Saarbrücken, der für den Kampf gegen Ausbeutung die Schule schwänzt, ist für Kampf: „Erst mal Bürgerkrieg!“, sagt er. Um den linken Ärmel seiner Lederjacke hat er ein rotes Tuch mit dem Kopf von Che gebunden, als würde er eine Schusswunde notdürftig versorgen. „Bürgerkrieg ist hart formuliert“, widerspricht ihm der 30-jährige Goran aus Berlin. Der Russisch-und-Englisch-Student sagt beschwichtigend: „Wir müssen den Unmut der Bevölkerung gegen die Auswirkungen des Systems aufgreifen.“ Der Protest gegen den EU-Gipfel sei „Voraussetzung für einen breit organisierten Widerstand“. Mehr Einigkeit herrscht im Audimax, wo sich etwa 600 Jungen und Mädchen in den Bänken und auf den Treppenstufen drängen und den verschiedenen Rednern mit einer Aufmerksamkeit lauschen, von der viele Lehrer träumen. Sie sind überzeugt, dass die jetzige Situation – Arbeitslosigkeit, Rezession, Bildungsnotstand – überaus günstig ist für ihren „sozialistischen Widerstand“. Einig sind sie sich in der kategorischen Ablehnung der Europäischen Union. „Trotz der Versuche, die EU demokratisch anzustreichen, vertritt diese Institution die Interessen der Großkonzerne und nicht die der arbeitenden Menschen Europas“, heißt es in der Gründungserklärung. Spricht man Kongressteilnehmer auf die EU an, ist das Thema in null Komma nix beendet. EU abschaffen, heißt es allerorten. Punkt, aus. Wie bei jedem anderen Kongress auch, werden Arbeitsgruppen gebildet und mit weißer Kreide auf der Tafel angekündigt: Bildung, Umwelt, Jugendrechte, antikapitalistische Kampagnen.

Nelli, eine 17-jährige Schülerin aus Berlin, interessiert sich besonders für die Kampagnen-Arbeitsgruppe. Der Grund: „Wir müssen eine starke Kraft entwickeln zur Abschaffung des Kapitalismus“, sagt das Mädchen, das seit drei Jahren Mitglied der „Sozialistischen Alternative Voran“ ist. „Das ist die einzige Hoffnung, die es für die Menschheit gibt.“ Wie sie das machen will? „Mit einem internationalen Block auf Demos gehen und Erfahrungen sammeln.“ Eckhard aus Kassel, ein 22-jähriger Student der Politik, Philosophie und Germanistik, der am Hemdkragen einen roten Stern trägt, will den Kapitalismus an der Wurzel bekämpfen. Dafür wäre der ernsthafte junge Mann, der sich besonders für Umweltthemen interessiert, bereit, später einmal bei Siemens zu arbeiten. „Um das Bewusstsein der Arbeiter für Streiks zu gewinnen.“

Auch Wolfgang, ein 29-jähriger Wiener, Mitglied der Sozialistischen Linkspartei, ist der Meinung, dass „der Kampf dort anfangen muss, wo das eigene Betätigungsfeld ist“. Er arbeitet seit anderthalb Jahren bei einem Mobilfunkbetreiber – „Ausbeutung pur“, wie er sagt – und klagt, dass der dortige Betriebsrat unpolitisch sei und sich mehr um Rabatte im Fitnessstudio als um den Abbau der Überstunden kümmere. Weil die nächste Betriebsratswahl erst in zwei Jahren stattfinde und er bis dahin sowieso schon gekündigt haben werde, konzentriere er sich auf das Diskutieren politischer Perspektiven in seinem „Umfeld“. Und die geforderte Mobilisierung der Arbeiterklasse? ,Als Wolfgang merkt, dass er sich in Widersprüche verwickelt, räumt er ein: „Ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen.“

Das hat wohl keiner der Kongressteilnehmer. Doch sie sind schon happy, mit Gleichgesinnten aus aller Welt zusammenzutreffen. Und an diesem Tag glauben sie sich ihrem Ziel, einer wie auch immer gearteten, „besseren Gesellschaft“, ein Stück näher. Bis die geplanten Delegiertentreffen stattfinden, haben sie vielleicht einen Namen dafür gefunden. Die einen sprechen von einer sozialistischen, die anderen von einer antikapitalistischen Gesellschaft. In der Gründungserklärung der Konferenz wird eine 1.-Mai-Demonstration in London erwähnt, auf der ein Transparent gesichtet wurde mit dem Spruch: „Schafft den Kapitalismus ab und ersetzt ihn durch etwas Netteres!“