Das Gymnasium ist zum Gähnen

Die Paradelehranstalt der Deutschen, das Gymnasium, hat bei einer Studie schwere Kratzer bekommen: Die Lernfortschritte der Schüler nehmen oft nicht zu, sondern ab. Die erschütternde Botschaft: Gymnasialunterricht langweilt die Besten

aus Hamburg REINHARD KAHL

Nun geht es Schlag auf Schlag. Am Tage 10 nach Pisa kam LAU. In der Namensgebung von Schulstudien sind wir ja richtig kreativ, auch wenn der Befund der Studien gerade diese Eigenschaft am meisten vermissen lässt. Wiederum wurde unseren Schulen die Temperatur gemessen und das Ergebnis ist lau, sehr lau.

LAU heißt, „Aspekte der Lernausgangslage und Lernentwicklung“. Die Hamburger Schulbehörde gab die Studie in Auftrag. Nachdem in den vergangenen Jahren die Klassenstufen 5 und 7 getestet wurden, waren jetzt 12.620 Neuntklässler dran. Das Ergebnis dieser in Deutschland einmaligen Langzeituntersuchung lässt größte Zweifel an den Schulen aufkommen – vor allem am Gymnasium. Hier gibt es sogar Einbußen: Jungen im Gymnasium, die zu der oberen Leistungsgruppe gehören, sind in ihrer Sprachentwicklung gegenüber dem Test in Klasse 7 zurückgefallen. Ausgerechnet im Fach der Fächer des Gymnasiums, in der Beherrschung der deutschen Sprache, produziert die Vorzeigeanstalt des deutschen Bildungssystems Stagnation und Rückschritt. Man reibt sich die Augen, doch das ist kein Missverständnis. Rückgang in der Sprachfähigkeit nicht etwa im Vergleich von heute zur guten alten Zeit, sondern zwischen Klasse 7 und 9. Auch in Mathematik und im Englischen ein ähnliches, klägliches Bild.

Die LAU-Studie begleitet erstmals die Karrieren von Schulen. Der Begleiter ist Professor Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität, einer der Forscher mit der größten Erfahrung und dem besten Leumund in der Evaluation von Schulen. Schon vor Jahren, als er in Hamburg Grundschüler testete, kam heraus, wie wenig Schulen bewirken und wie stark die häuslichen Bedingungen durchschlagen. Es kommt darauf an, so Lehmanns Botschaft dabei, im richtigen Stadtteil zu wohnen. Im vornehmen Blankenese ist es wahrscheinlich, mit dem Abitur abzuschließen, im Arbeiter- und Ausländerbezirk Wilhelmsburg, Hauptschüler zu bleiben – bei gleicher getesteter Leistung. Viele zuckten bisher ob solcher Ergebnisse mit den Schultern: So ist eben Schule. Seit Pisa wissen wir, so sind deutsche Schulen. Schule kann auch ganz anders sein.

Die Haupttendenz von LAU 9, der Folgestudie in Hamburg: „Homogenisierung der Leistungsstände zur Mitte hin“. Das Gymnasium nivelliert auf niedrigem Niveau. Der Argwohn, der bisher gegenüber der Gesamtschule gehegt wurde, trifft nun, empirisch abgesichert, das Lieblingskind unseres Systems: „Der mit Abstand geringste Lernzuwachs zeigt sich im Gymnasium.“ So heißt das einigermaßen vernichtende Urteil. Demgegenüber sind „die Lernentwicklungen in den Hauptschulen sowie im Kursniveau II der Gesamtschulen (unteres Niveau) besonders günstig ausgefallen.“

Das durchgängige Bild: Lerngewinne und Leistungszuwächse bei den schwächeren Schülern, geringe Zuwächse, Stagnation und sogar Einbußen bei den stärkeren. Man könnte auf die Idee kommen, in den Klassen 7 und 8 langweilen sich die Schüler und wenden sich ab. Am größten sind die Lernzuwächse noch im Fach Englisch. Liegt das vielleicht am Hören von Popmusik?

Das schon von den Pisa-Ergebnissen stark angeschlagene dreigliedrige, deutsche Schulsystem erscheint nach den LAU-Ergebnissen noch fragwürdiger. „Die Fachleistungen der Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Schulformen bzw. Kursniveaus der Sekundarstufe I zeigen große Überschneidungsbereiche“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie. 44 Pozent der RealschülerInnen sind auf durchschnittlichem gymnasialen Niveau. Auch 38 Prozent der SchülerInnen in den Realschulkursen von integrierten Haupt- und Realschulen erreichen den gymnasialen Schnitt, von den Gesamtschülern der Kurse I (oberes Niveau) sind es sogar 55 Prozent, die das gymnasiale Mittel erreichen oder darüber liegen. Schlussfolgerung der Wissenschaftler: „Damit hat ein nennenswerter Anteil der jeweiligen Schülerschaft den Anschluss an den höheren Bildungsgang halten können.“

Außerdem zeigt die Studie: „Je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, desto höher sind die erreichten Fachleistungen. Weder späte Einschulungen noch Wiederholungen führen zum Ausgleich von Lernrückständen.“ Wieder mal ist bewiesen, dass die beliebteste Medizin unseres Schulsystems, Sitzenbleiben und Abschulen, keine positive Wirkung haben. Die giftigen Nebenwirkungen allerdings sind einschlägig bekannt.

Im Gymnasium scheitert die Leistungsspitze beim Transfer des Gelernten auf neue Situationen und bei ungewohnten Anwendungen. Offenbar verlieren die Schüler Lust an der Steigerung ihrer Fähigkeiten und werden eher entmutigt als hungrig gemacht. Je höher die Lernausgangslage, desto geringer der Zuwachs, so in allen Fächern immer wieder der Befund. Geben die müden Schüler der Institution nur das Minimum? Nimmt das Interesse an den Sachen und die Lust an eigener Leistung und „Selbstwirksamkeit“ im Verlauf der Schulzeit ab?

In den Fokus der Aufmerksamkeit rückt nun das Gymnasium, das bisher den Maßstab setzte und sich selbst nie messen lassen musste. Es ist wohl die Schule, deren Unterricht am meisten langweilt. Wer dort nicht ums Überleben bangt, schaltet mehr oder weniger ab. Im Gymnasium scheint auch die Kooperation der Lehrer am geringsten. Zeigt sich hinter der braven Maske eine verwahrloste Anstalt?

Den Effekt schlechter Schulen, und das scheint bei uns die große Mehrheit, bezeichnete der Autor der LAU-Studie, Rainer Lehmann, kurz vor ihrer Veröffentlichung gegenüber der taz so: „Verschwendung von Lebenszeit.“