Ausliefern oder unterwerfen

Moby Dick auf Kampnagel: Das Theater Triebwerk untersucht mit Ahab und Ishmael ein Gegensatzpaar der Weltliteratur  ■ Von Doro Wiese

Im Winter 1850 besuchte Hermann Melville jeden Morgen und Mittag seine Kuh und sein Pferd, um ihnen beim Fressen zuzuschauen. Ansonsten schloss er sich in seinem Zimmer ein und versuchte, einen merkwürdigen Roman „aus seinem Hirn zu lösen“, nicht wissend, ob das Buch besser dort – sicher vor KritikerInnen – verbleiben sollte.

Als Moby Dick, die frisch gewonnene „Lyrik aus Walfischspeck“, neun Monate später erschien, konnte Melville Resümee ziehen: „Probiere, deinen Lebensunterhalt mit Wahrheit zu verdienen – und gehe zu den Suppenküchen.“ Sein Roman wurde kaum gelesen – und da spätere Werke ebenfalls keinen Absatz fanden, starb Melville verarmt. Erst in den 1920er Jahren wurde Moby Dick entdeckt und begründete posthumen Ruhm.

Eine dieser Umsetzungen ist als Theaterstück für Jugendliche und Erwachsene jetzt auf dem Kampnagel zu sehen. Die freie Theatergruppe Triebwerk nahm sich des Klassikers an, um drei Themen zur Anschauung zu bringen. Zum einen wollen sie das „Kräftemessen mit der Natur“ darstellen. In diesem Sinn verspricht die lebensgefährliche Jagd mehr als Lohn und Brot, denn es findet sich ein fundamentaler Lustgewinn beim Aufs-Spiel-Setzen von Unversehrtheit und Leben ein.

Außerdem beleuchten sie die Figur des Kapitän Ahabs, der seine Mannschaft für persönliche Rachemotive instrumentalisiert. Indem er den weißen Wal namens Moby Dick zum boshaften Widersacher erklärt, übernimmt seine eigene Projektion die Handlungsleitung. So reißt er die Besatzung der Pequod in eine Haltung hinein, die die Natur als feindlich ansieht. Des Weiteren verstößt Ahabs tyrannisches Durchsetzungsvermögen gegen demokratische Grundregeln der Übereinkunft. Während seine Mannschaft sich zum Geldverdienst und aus Abenteuerlust anheuern ließ, diktiert Ahab den Tod des weißen Wals zum einzigen Ziel. Jeden Widerspruch übertönend, zwingt er seine Vorstellungen der Besatzung auf, Empathie und Achtung werden verworfen.

Mit diesen thematischen Verdichtungen gelingt es Triebwerk, wesentliche Aussagen des Romans hervorzuheben. Wie sich Menschen gegenüber Natur und Gesellschaft positionieren, erkundet Moby Dick beispielhaft anhand von Kapitän Ahab und Ich-Erzähler Ishmael. Dabei verkörpert Ahab eine Egomanie, deren Ausschließlichkeit jeden gleichwertigen Kontakt untersagt und in ihrer Verkennung menschlicher Abhängigkeit und Begrenztheit zum Untergang verurteilt ist.

Im Gegenzug zeigt die neugierige Erzählweise Ishmaels, dass gerade eine differenzierte Betrachtung von Welt und anderen zwar keinen Schlusspunkt erlaubt, aber für ein Miterleben notwendig ist. Zwar ist in beiden Figuren ein Scheitern angelegt, wird Ahab doch letztendlich von seiner eigenen, zum leibhaftigen Wal gewordenen Projektion „aufgefressen“ und kehrt nur mit toten Augen auf diese Welt zurück. Ishmael dagegen scheitert an der Unmöglichkeit, die letzte Wahrheit über Wal und Welt zu finden. Als sich vervielfältigender Gegenstand, der immer von neuem zu betrachten ist, bedeuten Wale für Ishmael die Unmöglichkeit einer Stillstellung – und damit eine das Unvorhersehbare begrüßende Lebendigkeit.

In Triebwerks Inszenierung verwandelt sich Ishmael in Ahab und Ahab in Ishmael, denn sie werden beide von einem großartig spielenden Thomas Bammer in Szene gesetzt. Dieser Schachzug ermöglicht es, beide Figuren als Kehrseiten voneinander zu sehen. So entsteht eine Koexistenz unterschiedlicher Seinsformen. Ob man die Welt unterwirft oder ihr ausgeliefert bleibt – entlang dieser Entscheidung verlaufen die Trennungslinien. Weit entfernt sind sie nicht voneinander, vielleicht sogar in jedem und jeder angelegt. Ob jedoch mit Bitterkeit oder Offenheit reagiert wird, darüber entscheidet die Haltung.

20.–22.12., 19 Uhr, Kampnagel (k1), 20. 12. auch 11 Uhr