Himmlische Bauhelfer

Die einen besorgen sich echte Schwanenflügel, die anderen basteln Zwitterwesen aus recycelten Tierkörpern: Bei den Engeldarstellungen in Berliner Galerien herrscht hübsche Unklarheit über Geschlecht und Zahl der göttlichen Wesen

Das Paradies liegt irgendwo im Osten. Eindeutig. Es riecht dort angenehm nach Gesottenem und Gebratenem, zumindest dann, wenn das Fett noch nicht zu lange in der Fritteuse ist. Es nennt sich Jenny’s Imbiss-Paradies. Die Bezeichnung ist unbedingt gerechtfertigt, denn ganz sicher ist Jenny ein Engel, entsprungen den himmlischen Heerscharen. Ihre Lanze ist der Schaschlikspieß, den sie mit erheblicher Geschicklichkeit in das Rind- und anderes Fleisch stößt. Nicht nur das ins diesseits gerichtes Stoßziel unterscheidet sie von ihren in luftigeren Sphären angesiedelten Berufsgenossen. Ganz diesseitig ist auch ihre überaus erfreuliche, klar geschlechtlich definierte Erscheinung. Das aber disqualifiziert sie als Gottesboten ganz erheblich, denn Johannes Paul II. verkündete jüngst unzweideutig: „Engel haben keinen Leib.“

Dieser apodiktischen Behauptung widerspricht ganz entschieden Johannes Grützke in der Ladengalerie mit seinen fulminant gemalten Körperdarstellungen. Engel, als künstlerisches Topos nun wahrlich nicht neu, beschäftigen den Maler schon lange. „Sie ziehen sich durch sein ganzes Oeuvre“, erzählt die Galeristin Karoline Müller. Als Anschauungsmaterial habe Grützke sich deshalb echte Schwanenflügel beschafft, was gar nicht so einfach gewesen sei. Wie der Künstler zu seinem Thema gekommen ist, erklärt sie nicht.

Sicher jedoch ist, dass Engel bei Grützke keinen Geleitschutz in den Himmel bieten. „Der himmlische Bohrer“ beispielsweise tritt eher den Rückweg in andere Regionen an. In der verkeilten Dreierszene ist der Kopf der titelgebenden Figur im gewaltigen Hinterteil eines Mannes verschwunden. Dem bereitet die verquere Aktion augenscheinlich erheblichen Spaß. Denn um das Eindringen zu beschleunigen, unterstützt er tatkräftig den Engel, der den menschlichen Bohrer treibt. Weit entfernt von der ansonsten beim überirdischen Geschlecht üblichen, immerwährenden himmlischen Ekstase ist auch der „Engel des Herrn, oh, ich bin eine Frau“. Reichlich verwirrt wirkt er, ob Mann, ob Frau, ist nicht klar erkennbar. Möglicherweise wurde er vom postmodernen Gender-Diskurs aus vertrauten Bahnen geworfen und vermag sich nun nicht mehr auf tarifvertraglich festgeschriebenes Posaunenspiel zu konzentrieren.

Wo es schon keine Klarheit über das Geschlecht von Gottes Bordkapelle gibt, da nimmt die Unsicherheit über ihre Zahl nicht Wunder. Stimmt die katholische Zählweise, dann kommt auf jeden Menschen ein Schutzengel, unterschiedlos. Auch Ussama bin Laden und Frank Steffel haben einen. Es würden sich in ätherischen Sphären also wenigstens sechs Milliarden Himmelwesen tummeln. Einige davon haben sich in die Galerie Hofmann und Kyrath verirrt. Natürlich dabei: Marlene Dietrich, allerdings nicht als blauer Engel. Ihr Gesicht mit niedergeschlagenen Wimpern, durchbohrt vom Speer der Quadriga, wirkt entrückt. Als habe ihr, dem Mitglied im himmlischen Vokalensemble, ein an der Wange sprießender Flügel die Sprache verschlagen. Viel lustiger kommt das Engelsmännchen von Klaus Sommerfeld daher, dessen ganz persönlichen Securitas-Flügler mit ausgebreiteten Armen in einem bunten Gewirr von Farbklecksen stehend. Das ist nett anzusehen und hübsch verspielt.

Gar nicht so ernst gemeint sind auch die geflügelten Wesen von Iris Schieferstein, die zuletzt in der Aktions-Galerie zu sehen waren. Die Bildhauerin suchte lange und fand schließlich ihr Material: Frisch recycelt aus der Supermarkt-Kühltruhe oder knapp vor der Einäscherung in der Tierkörperverwertungsanstalt bewahrt, schwimmen ihre zusammengebastelten Zwitterwesen anmutig im Formaldehyd-Bassin. Stimmt die Annahme des frühchristlichen Tierliebhabers Thomas von Aquin (1226 bis 1274), dass die geflügelte Sicherheitsüberwachung sich auch auf die nichts ahnende Tierwelt erstreckt, so addiert sich die Zahl der himmlischen Herrscharen zu Myriaden. Schwierigkeiten allerdings dürfte die Festlegung der Arbeitsbereiche beim Begleitschutz für Schiefersteins „Untiere“ bieten, denn stets näht sie neue Körperkonstrukte aus mehreren „Arbeitsvorlagen“ zusammen. In der Aktions-Galerie gab es durchaus heftigen Widerspruch gegen die Präparate: „Schmore in der Hölle“, schrieb ein Besucher der dennoch gut gelaunten Künstlerin in die ausliegende Kladde.

In der Unterwelt allerdings würde sie möglicherweise ebenfalls Engeln begegnen. Nach dem Buch Genesis (6, 1–4) brutzeln dort nämlich die Abtrünnigen. Abkommandiert zur Erschaffung des Garten Edens wurden die Bauhelfer schwach beim Anblick weiblicher Schönheit, was unverzüglich eine göttliche Ausbürgerungsaktion nach sich zog.

RICHARD RABENSAAT

Bis 31. 12., Mo–Fr 12–20, Sa 10–16 Uhr, Hoffmann + Kyrath, Bundesallee 26.Bis 28. 2. 2002, Di, Mi, Do 10–18.30 Uhr, Ladengalerie, Brunnenstraße 5