Aufstand vor dem Staatsbankrott

von TONI KEPPELER

Die Argentinier haben ein neues Wort erfunden: „delaruizar“. Pate für die Schöpfung stand der Nachname von Präsident Fernando de la Rúa. Grammatikalisch handelt es sich um ein Verb. Aber der Bedeutung nach ist es kein Tunwort, sondern eher das Gegenteil davon. „Delaruizar“ heißt so viel wie „völlig verwirrt sein und nicht mehr wissen, was zu tun ist“. Denn der Präsident weiß schon lange nicht mehr, was zu tun ist.

Das hindert ihn aber nicht am Handeln: In der Nacht zum Donnerstag hat de la Rúa den Ausnahmezustand ausgerufen, befristet zunächst auf 30 Tage. Damit können Versammlungen ohne Angabe von Gründen aufgelöst, eine Ausgangsperre verhängt und Personen ohne Haftbefehl festgehalten werden. Dem Schritt vorausgegangen waren Demonstrationen und Plünderungen im ganzen Land. Zunächst waren nur die großen Supermarktketten Ziel der Plünderer. Ganze Schinken, Getränkekisten und sogar geschmückte Weihnachtsbäume wurden aus den Einkaufszentren davongetragen. Doch dann wurden auch zahlreiche kleine Geschäfte ausgeraubt. Ihre Besitzer stehen jetzt vor dem Ruin. Die Einkaufsstraße eines Viertels von Buenos Aires ist ein Bild der Zerstörung. Zerschlagene Fensterscheiben, verbogene Sicherheitsgitter, umgekippte Regale in den Geschäften zeugten von den Streifzügen der Plünderer. Zwölf Tote, 150 Verletzte und 500 Festnahmen wurden bis gestern Nachmittag gezählt. Die Polizei in der Hauptstadt ging brutal auch gegen friedliche Demonstranten vor: Sie griff mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen an.

Der doppelte Minister

„Gewalttätige Gruppen haben die Lage ausgenutzt“, so begründete der Präsident in einer nur zweiminütigen Fernsehansprache die Verhängung des Ausnahmezustandes. „Die Lage“: Das ist ein Land vor dem Staatsbankrott, mit 132 Milliarden Dollar Staatsverschuldung, mit Staatsanleihen, die nur noch zu 26,5 Prozent des Nennwerts gehandelt werden, mit einer offiziellen Arbeitslosigkeit von 18 Prozent, die tatsächlich noch weit höher liegt.

Einer der Gründe für diese Situation liegt in der Politik des Mannes, der die letzten neun Monate Wirtschaftsminister Argentiniens war: Domingo Cavallo. Er trat gestern zurück, nachdem der Kongress die von ihm verfügte Teileinfrierung der Privatkonten aufgehoben und der Regierung die Sondervollmachten für wirtschaftspolitische Maßnahmen entzogen hatte. Vor Cavallos Privathaus hatte sich eine protestierende Menge eingefunden, sein Ministerium ging in Flammen auf.

Während seiner Amtsperiode hatte der Wirtschaftsminister immer schneller und widersprüchlicher versucht, das Land noch vor dem Bankrott zu retten. Innerhalb eines Monats kündigte Cavallo den größten Schuldentausch der Weltgeschichte und Steuererleichterungen an. Dann folgte die Konteneinfrierung. Drei Tage später lockerte er die Zwangsmaßnahme wieder etwas. Noch einmal ein paar Tage später griff er tief in die privaten Rentenkassen, kündigte weitere Einschnitte in den ohnehin schon auf ein Minimum zusammengestutzten Staatshaushalt an und nahm die Steuererleichterungen wieder zurück.

Der umtriebige Nothelfer Cavallo war vor gut zehn Jahren schon einmal Wirtschaftsminister. Damals koppelte er den argentinischen Peso im Verhältnis eins zu eins an den US-Dollar, und das gilt bis heute. Die Nachbarländer aber haben längst abgewertet. Argentinische Waren sind deshalb auf dem Weltmarkt völlig überteuert und nicht konkurrenzfähig. Das kostete zehntausende von Arbeitsplätzen, minderte die Steuereinnahmen und führte so mit in die jetzige Finanzkrise.

Deren Ursprünge jedoch liegen noch einmal acht Jahre weiter zurück. 1983 wurde Raúl Alfonsín von der Radikalen Partei nach sieben Jahren Militärdiktatur der erste demokratisch gewählte Präsident. Ein rechtschaffener Mann, der Generäle vor Gericht stellen ließ und der wollte, dass es den Argentiniern nach den dunklen Jahren besser gehe. Aber ein schlechter Rechner. Er gab stets mehr Geld aus, als er einnahm. Die Lücke füllte er mit der Notenpresse und trieb damit die Inflationsrate in den fünfstelligen Bereich. Schon vor dem Ende seiner Amtszeit stand er so da, wie sein Parteifreund de la Rúa jetzt: völlig verwirrt. Er schrieb vorzeitige Neuwahlen aus. Es gewann der Peronist Carlos Saúl Menem.

In der Schuldenfalle

Menem war weniger zimperlich als sein Vorgänger. Kaum an der Macht, fror er über Nacht die Sparkonten ein, tauschte sie in Anleihen um und füllte so die leere Staatskasse. Ein Jahr später begann er mit der Senkung von Zollschranken und dem Ausverkauf staatlicher Betriebe. Argentinien entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zum Musterknaben des Internationalen Währungsfonds (IWF). Es bekam jeden Kredit, den es haben wollte. Ausländische Investitionen flossen ins Land. Menem häufte Schulden nach Belieben an.

Das ging relativ gut bis Ende 1998. Dann schwappte die Finanzkrise in Russland und Südostasien nach Lateinamerika hinüber. Investoren verloren das Vertrauen in das, was in ihrer Sprache „Wachstumsmärkte“ heißt. Sie zogen Milliarden von Dollars ab. Brasilien reagierte und wertete den ein paar Jahre vorher ebenfalls an den Dollar gekoppelten Real ab. Doch Argentinien blieb stur beim festgeschriebenen Eins-zu-eins-Wechselkurs. Das hatte Folgen: Argentinische Waren, die vorher in Brasilien preisgünstiger waren als die einheimischen, waren plötzlich völlig überteuert. Die Handelsströme drehten sich um. Multinationale Unternehmen zogen wegen der niedrigeren Produktionskosten nach Brasilien um.

Seither kommt das Land nicht mehr aus der Rezession. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Steuereinnahmen sinken. Damit fehlt dem Staat das Geld, um die Zinsen für die Schulden zu bezahlen. Um es doch zu schaffen, lancierte de la Rúa ein Sparprogramm nach dem anderen. Er entließ tausende von Staatsangestellten, strich die Ausgaben für Krankenhäuser und Schulen, kürzte Gehälter und Renten. Das sparte zwar Kosten, senkte aber gleichzeitig die Steuereinnahmen noch mehr, und so war gar nichts gewonnen.

Der IWF hielt seinem einstigen Lieblingskind zunächst die Treue und versprach allein in diesem Jahr weitere 40 Milliarden Dollar. Doch dann griffen de la Rúa und Cavallo zu Methoden, die den Washingtoner Marktfetischisten gar nicht gefielen. Anfang November boten sie ihren Gläubigern ein Geschäft an: Entweder, sie tauschen ihre hochverzinslichen Anleihen in niedrig verzinsliche um, oder sie kriegen gar kein Geld mehr. Man könnte das auch Erpressung nennen. Rating-Agenturen nannten es „technische Zahlungsunfähigkeit“.

Bereits vereinbarte Kredite wurden auf Eis gelegt. Die aber wären nötig gewesen, um anfallende Zinsen zu bezahlen. Also griff de la Rúa in die privaten Rentenkassen. Aber auch die werden in ein paar Monaten leer sein. Dann soll das nächste Sparprogramm greifen. Der Etat für das Jahr 2002 wurde um 20 Prozent zusammengestrichen. Nur ein Posten ist tabu: Der Schuldendienst.

Topfschlagen für die Zukunft

Die Rechnung bezahlen die Argentinier. Und das, so zeigen die Unruhen, wollen sie nicht ohne weiteres tun. Die Verhängung des Ausnahmezustandes fachte die Demonstrationen noch an. Selbst in den Stadtteilen der Besserverdienenden trafen sich die Nachbarn auf den Gehwegen und schlugen mit Kochlöffeln kräftig auf Töpfe oder Schüsseln ein. Gegen Mitternacht versammelten sich Tausende von Menschen, abermals bewaffnet mit Kochlöffeln und Töpfen, vor dem Präsidentenpalast und dem Nationalkongress.

De la Rúas gesamtes Kabinett hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Rücktritt angeboten. Damit wurde der Weg frei für de la Rúas letzte Chance: Eine Regierung der nationalen Einheit, bei der auch die Peronisten mit von der Partie sein werden. Doch der Präsident hat schlechte Karten. Seit der Wahl im Oktober ist seine Radikale Partei im Abgeordnetenhaus und im Senat nur noch eine kleine Minderheit. Der Etat muss im Parlament verabschiedet und Sparprogramme müssen politisch durchgesetzt werden. Ob es ihm gemeinsam mit den Peronisten gelingen wird, das Land wieder zu stabilisieren, ist zweifelhaft. Schließlich war es die peronistische Regierung, die von 1989 bis 1999 die rigorosen neoliberalen Programme durchgepeitscht hat. Mitarbeit: INGO MALCHER