Es war einmal Tschetschenien

Der Krieg kam über Ayza wie eine Naturkatastrophe. In Tschetschenien kann sie nicht mehr leben. Das Land ist Opfer eines großen Verrats: Seit dem 11. September spricht niemand mehr von diesem Stück Erde
von SONIA MIKICH

Sie entschuldigt sich in diesem Brief so oft, dass es mir wehtut: “Tut mir leid, dich zu fragen. Ich hoffe, ich belästige dich nicht. Ich weiß niemanden, an den ich mich wenden kann“ - Ayza K., die in drei langen Kriegsjahren mich und andere westliche Journalisten in Grosny beherbergte und so etwas wie meine Adoptivschwester wurde. Ärztin, verheiratet, Mutter zweier Teenie-Töchter. Eine Durchschnittsfamilie, mit kleinen Ansprüchen ans Leben: dass die Mädchen etwas Ordentliches lernen, dass Vater und Mutter wieder arbeiten dürfen. Sie hatten ein kleines Haus, einen Gebrauchtwagen, abends wurde ferngesehen oder mit den Nachbarn im Hof Karten gespielt und Bier getrunken. Ihr größter Traum: mich einmal in Paris zu besuchen. Dorthin war Ayza einmal als junges Mädchen mit den gut situierten Eltern gereist. Ayza und ihre Familie sind keine Rebellen, gewiss nicht, eher sanfte Kleinbürger, bei denen ich mir in drei Kriegsjahren immer die Informationen holte, wie “normale Tschetschenen“ gerade dachten.

Und nun will Ayza, dass ich ihr mit Beglaubigungen helfe, zur Ergänzung ihrer Asylanträge. Dass ihr Haus nicht mehr existiert, dass sie keine Extremisten sind - alles belegbar, mit Briefen, sogar auf Video. Ob es nützt?

Ayza flüchtete aus Grosny, als die Stadt, verhasstes Symbol des tschetschenischen Widerstands, zum zweiten Mal durch russische Bomben vernichtet wurde. Ihre Straße, die Uliza Gribojedewo, zehn Fußminuten vom Zentralmarkt entfernt, glich einer Kraterlandschaft.

Zunächst trecken alle vier zu Bekannten in die Nachbarrepublik Inguschetien, ihnen blieb das krank machende Elend der riesigen Flüchtlingslager erspart. Allmählich reifte die Erkenntnis, dass die so genannte Terroristenbekämpfung der russischen Armee eine Vernichtungskampagne war. Tschetschenien, ob unabhängig, halbautonom oder kolonialisiert, war nicht mehr lebensfähig. Auch nicht für die Bescheidensten, Abgehärtetsten seiner Bürger. Ayza telefonierte die dürre Statistik zu mir herüber: „Bis 1994 lebten rund 1,2 Millionen Menschen bei uns. Jetzt sind es nur noch 300.000. Erst zogen die Russen weg, weil es wirtschaftlich bergab ging und weil sie Angst vor den Nationalisten hatten. Dann kam der erste Krieg, dann der zweite.“ Als ob drei Viertel aller Deutschen auf der Flucht wären. Ausgelöschte Heimat, zusammengeschossene Hoffnungen: Ayza kratzte das letzte Geld der Familie für die Menschenschmuggler zusammen und schaffte die Flucht über die Grenze nach Polen. Am Telefon hörte ich von dieser einen, tiefschwarzen Stunde, die Panik in die Seelen jagte: als sich Vater, Mutter und Töchter auf verschiedene Autos von Unbekannten verteilten. „Wir wussten nicht, ob wir je wieder zusammenkommen in Europa, ob sie uns nicht einfach das Geld abnehmen und aussetzen oder Schlimmeres.“ Und jetzt ein Leben im polnischen Ljubin - zusammengequetscht in einem winzigen Raum.

Sie warten auf Bleiberecht, hoffen auf das alte Misstrauen der Polen gegenüber den Russen. Hoffen ins Leere, denn die neue polnische Regierung will nicht als tschetschenenfreundlich gelten oder es sich mit dem Nachbarn verderben. Nur wenige Flüchtlinge werden legal im Land bleiben dürfen.

Ayzas Leben ist zum Stillstand gekommen. Das Taschengeld von den polnischen Behörden, ungefähr vierzig Mark im Monat pro Person, geht für Zigaretten drauf, weil der Vater so nervös geworden ist. „Die Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen, stell dir vor. In Tschetschenien und Inguschetien hatten sie kaum Unterricht und hier gar nicht. Sie sind 15 und 17 und haben drei Jahre verloren.“ Auch die energische Ayza sitzt herum. Einziger Zeitvertreib: fernsehen. Eine Busfahrt in die Stadt ist zu teuer. Ein Telefonat ins Ausland ist zu teuer. Die jüngste Nachricht aus der Heimat: Der Schwager, der in Grosny blieb, wurde von einer Mine zerrissen.

Ayza ist auch irgendwie gestorben. Nicht physisch, aber doch als Mensch annulliert. Sie und ihre sehr sympathische, sehr normale, sehr unschuldige Familie sind Kollateralschaden eines Krieges, der keine Lobby hat. Die Menschenrechtler können nichts ausrichten. Hilfsorganisationen sind gefesselt. Die russische Armee kann unkontrolliert tun, was sie will. Die tschetschenischen Warlords interessieren sich nur für ihren lokalen Machterhalt.

Es war einmal Tschetschenien. Das kriegsverwüstete Land ist dabei, endgültig aus dem Bewusstsein der Zivilgesellschaft zu verschwinden. Ein schmutziger, kleiner Krieg ist es, der in den letzten Monaten je und je ein Dutzend massakrierter russischer Soldaten, eine Handvoll verbrannter Zivilistenleichen oder ein paar Quadratkilometer Trümmer produzierte. Zu klein, als dass er je wieder auf die Agenda der Weltöffentlichkeit geraten könnte. Zu schmutzig, als dass er in eine ordentliche O-Ton-Spende der Politiker passen könnte.

Tschetschenien steht für einen großen Verrat. Seit dem 11. September spricht niemand mehr von diesem Stück Erde, das zum Verbluten und Verrotten verdammt ist. Das Ergebnis einer westlichen Politik, die die Nichteinmischung in Russlands “innere Angelegenheiten“ zum Mantra erhob. Vieles wäre anders verlaufen, hätte sich der Westen in der Kaukasusrepublik engagiert und die moderaten Kräfte unterstützt, materiell, aber vor allem moralisch. Nach dem ersten Krieg von 1994 bis 1996, der nach außen und innen so verlustreich für Russland war und 80.000 Tote forderte, gab Jelzin zu, den schlimmsten politischen Fehler seiner Amtszeit gemacht zu haben. Einsicht schien möglich. Frieden schien möglich. Unter der Kontrolle der OSZE wählte Tschetschenien Anfang 1997 demokratisch und frei den gemäßigten General Aslan Maschadow zum Regierungschef. Doch ähnlich wie bei Afghanistan ließ der Westen die kleine Republik fallen. Ein Interessenvakuum entstand, dass von ausländischen Islamisten ausgenutzt wurde. Gleichzeitig erstickte Russland unwidersprochen die abtrünnige Region durch ein unerbittliches Embargo. Monat für Monat rutschte Tschetschenien tiefer in die Isolation. Fabriken, Straßen, Schulen waren zerbombt. Den Zivilisten wurde die Existenzgrundlage verweigert. Das einzige, was blühte, waren Öldiebstahl und Entführungsindustrie. Wahabiten, Anhänger einer arabischen islamischen Bewegung, konnten in dieser Anarchie agieren, nahmen ungestört die Zivilbevölkerung in Geiselhaft. Sie brachten als einzige Geld und Hilfe ins Land. Mit Saudi-Millionen wurden Straßen, Moscheen und Infrastruktur gebaut. Wahabiten zahlten arbeitslosen Jungen hundert Dollar im Monat, wenn sie sich in Lagern militärisch und religiös schulen ließen. Gotteskrieger bekamen Zulauf. Die Scharia wurde geltendes Recht, obwohl der islamische Glauben in Tschetschenien nur oberflächlich ausgeübt wurde. Der Widerstand gegen Russland mutierte zu Anschlägen einzelner Banden, die Trennung zwischen nationalem Befreiungskampf und fundamentalistischem Terror verwischte.

Es war einmal Tschetschenien. Als Kanzler Schröder am 25. September dem neuen Alliierten Putin unaufgefordert zusagte, den Tschetschenienkonflikt neu zu überdenken, relativierte er jeden moralischen Impuls gegen null. Was überdenken? Tausende Tote? Hunderttausende Flüchtlinge? Bleiernes Leid? Sind sie nach dem 11. September nicht mehr da? Schröder und die Weltgemeinschaft wissen genau, was nach wie vor hinter den Schlagposten der russischen Armee passiert: schwerste Menschenrechtsverletzungen, Plünderung, Mord, Vergewaltigung. Nicht zu vergessen das unnütze Opfer Tausender junger Russen, die Krieg führen müssen.

Durch die Nichteinmischung Europas schwelt im nördlichen Kaukasus ein Krisenherd, der leicht zum Afghanistan vor unserer Haustür mutieren kann. Wenn sich todesbereite Mudschaheddin zivile Ziele bei uns vornehmen: Ob als Schulterschluss mit Bin Laden deklariert oder als Racheakt für russische Menschenrechtsverletzungen, ist dann nicht mehr wichtig.

Es war einmal Tschetschenien. Berge, die wie ein steinernes Gebet in den Himmel strebten, von atemberaubender Schönheit. Eine flirrende Ebene mit langweiligen Sowjetstädtchen und grau schäumenden Flüssen. Straßendörfer, in denen die großen Höfe der Clans sich aneinander schmiegten.

Und schließlich Grosny, die raumgreifende Hauptstadt des Landes: Märkte, Theater, Universitäten, zwei Moscheen, zwei Kirchen für 300.000 Menschen. Ohne jede Ironie sagten die Tschetschenen früher von ihrer Hauptstadt, sie sei das Paris des Kaukasus. Ich selbst war auch gerne in Grosny und mochte die Menschen.

Wie Ayza: schlagfertig, klug und nach innen und außen wahrlich unverschleiert. Dies versuche ich in meinen „Beglaubigungen“ anklingen zu lassen, in der Hoffnung, dass sich ein polnischer Beamter für diese Familiengeschichte interessiert. Die Töchter Madina und Lalitha sind klug und hübsch. Die Vorstellung, dass sie, unverschuldet, zum lebenslangen Improvisieren verurteilt sind, macht mich traurig, weil ich selbst aus Nachkriegs-Flüchtlingsbiografien stamme. Und dass meine nette Spießerfamilie aus Grosny, wie Hunderttausende andere, aus den Artikeln, Diskussionen, Hilfsaktionen verschwindet, beschämt mich. Ich kann ihnen nicht erklären, warum der Westen nach dem 11. September mit verdächtigen Männerbünden, Hardlinern und Diktatoren der ganzen Welt zusammenrückt bei der Jagd auf Bin Laden oder warum Joschka Fischer für Israel und Palästina gewaltige Reisen unternimmt - aber die Katastrophe am Kaukasus verdrängt.

Seit dem 11. September beschwören westliche Politiker die universellen Werte unserer Zivilgesellschaft, um doch in Krisen erster und zweiter Klasse zu unterscheiden. Die Toten, Verletzten, Traumatisierten des World Trade Center sind irgendwie unserer Aufmerksamkeit und Emotion mehr wert als die Opfer anderswo. Unerträglich ist die Hierarchisierung des Schmerzes und des Unrechts.