Lob der Weihnachtsgeschichte

Einmal im Jahr rückt das Christentum Mutter und Baby ins Zentrum des Interesses – eigentlich keine schlechte Idee. Wir können davon etwas lernen – auch heute noch

Wir haben längstvergessen, dass dieKrippe ein Futtertrog ist und Hirten die Armen, die Loser sind

Anfang Oktober erschien auf der Titelseite der Zeit ein Bild, das mir im Vorübergehen in den Blick kam und um dessentwillen ich die Zeitung kaufte. „Afghanische Mutter mit ihrem Kind auf der Flucht“ stand darunter, und man sah unter dem Tuch, das malerisch über Kopf und Schulter der Mutter lag und gleichzeitig das Baby einhüllte, ein sehr junges, sehr ernstes Gesicht. Vor Entschlossenheit, das kleine Bündel durch alle Gefahren zu tragen, war es beinahe trotzig.

Das Baby sah aus wie ein Wachspüppchen und guckte im Vertrauen auf die grenzenlosen Kräfte seiner Mutter genauso gerade und zuversichtlich in die Welt wie jedes andere Baby auch, das meint, die Welt sei in Ordnung, so lange es sich im Arm seiner Mutter befindet. Ich habe mir das Bild damals ausgeschnitten, um es in der Weihnachtszeit als Madonna an die Wand zu hängen, und da hängt es jetzt es jetzt tatsächlich.

Es gehört zu den schönen Seiten des Christentums, dass es – jedenfalls einmal im Jahr – eine junge Mutter mit ihrem Kind in den Mittelpunkt der Verehrung rückt. Das hebt diese Religion von den anderen Hochreligionen ab.

Auch in den weltlichen Kulturen gibt es dieses Motiv sonst nicht. Nicht einmal Mao Tse-tung wurde als Baby verehrt. Höchstens das Bild der „Migrant Mother“, das im amerikanischen New Deal der Weltwirtschaftskrise berühmt wurde, fällt mir ein, wenn ich nach Vergleichen suche. Dieses Foto einer vom Hunger verhärmten jungen Farmersfrau, dessen Original bei Christie’s gerade für viel Geld versteigert wurde, brachte der amerikanischen Öffentlichkeit in den Dreißigerjahren das Elend einer ganzen Bevölkerungsschicht zu Bewusstsein.

Denn das ist der Vorteil eines solchen Kults: Er bringt den Zeitgenossen in Erinnerung, wie heikel und gefährdet der Anfang des Lebens ist und wie viel Stütze er von der Gesellschaft braucht. Maria ist eine allein stehende Mutter, denn praktisch taugt der Heilige Geist als Vater nicht viel. Es ist gut, dass Josef da ist, dieser rühmenswerte Mann, dessen Sorge für Mutter und Kind nicht durch Vaterstolz und Fortpflanzungsbedürfnis motiviert ist.

Man kann die Qualität einer Gesellschaft daran messen, wie wichtig ihr die allein stehende Mutter und ihr Kind sind. In früheren Zeiten, in denen Kinder innerhalb von Ehen gezeugt wurden, ging es um das Schicksal der Witwen und Waisen. Sie stellten das soziale Problem dar, an dem sich die Gutherzigkeit bewähren sollte. Gott selbst dient im fünften Buch Mose als Vorbild, weil er zu allererst die ungeschützte Situation dieser Frauen im Auge hat: „Denn der Herr, euer Gott, ist ein Gott aller Götter und Herr über alle Herren, ein großer Gott, mächtig und schrecklich, der keine Person achtet und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gebe.“ Maria verkörpert in doppelter Weise einerseits die allein stehende Mutter und andererseits den Fremdling, der den Schutz der Heimat entbehrt.

Im christlichen Mittelalter bestand die Veredelung des Kriegers zum Ritter im Wesentlichen darin, dass er sich von einem Schlagetot in den Beschützer der Witwen und Waisen verwandelte. Man findet entsprechende Anforderungen gegenüber den allein stehenden Müttern im Islam.

Die gegenwärtige Gesellschaft aber steht bei allem Wohlstand, den sie zu bieten hat, nicht gut da, wenn sie an diesem Maßstab gemessen wird. Allein gelassen, auf sich gestellt, ohne Wochenende und ohne Urlaub leisten die Mütter den untersten Dienst der Gesellschaft. Er ist zwar die Basis für alles Zukünftige, seine Würdigung aber wird als nationalsozialistische Unart angesehen und darf deshalb fehlen.

Für diese Frauen gibt es nur eine traurige Alternative: Entweder die rettungslose Überforderung in der Hetze zwischen Beruf und Mutterpflichten – ein atemloses Leben, das auf reguläre Weise gar nicht funktionieren kann und aus Durchmogeln besteht, belastet mit ewigem schlechtem Gewissen gegenüber beiden Aufgabenkreisen. (Wer fragt sich heute Vormittag beim Einkaufen, wie es den Verkäuferinnen, wenn sie mittags müde nach Hause kommen, noch gelingen soll, ein Weihnachtsfest auf die Beine zu stellen, bei dem für ihre Kinder das Himmelstor aufgeht?) Die Alternative ist die Versorgung durch das Sozialamt und die damit verbundene Vereinsamung der jungen Frau und ihres Kindes.

Neuerdings hat man entdeckt, dass Deutschland in Zukunft unterbevölkert sein wird. Will man die fehlende Bevölkerung nicht mit Ausländern aufstocken, muss man sich auch der allein stehenden Mutter zuwenden. Bisher ist die Sozialpolitik nicht an ihr interessiert. Ganz bewusst will man ihr weder die ihr zustehende Achtung zukommen lassen noch ihre Versorgung attraktiv gestalten. Es soll für Frauen ohne festen Mann kein Anreiz geschaffen werden, sich fortzupflanzen.

Auch die katholische Kirche nimmt da keine andere Haltung ein. So sehr sich gegen die Abtreibung wehrt, so wenig ist sie bemüht, befriedigende Rahmenbedingungen für die Mütter zu bieten, die sich und ihr Kind ohne weitere Familie durchbringen wollen.

Zivile Qualität einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit allein erziehenden Frauen umgeht

Wie gut hat es vergleichsweise Maria! Wenn sie auch in der Fremde ist – in Bethlehem, wohin sie des Kaisers Gebot verschlagen hat –, wenn sie auch auf der Flucht ist – in Ägypten, wohin sie die Morddrohungen des König Herodes vertrieben haben –, so sind doch im Übrigen alle guten Kräfte des Himmels und der Erde darum bemüht, ihre Situation zu erleichtern und in ihrem Dienste tätig zu sein. Die Engelein selber singen das Wiegenlied, die Hirten kommen vom Feld und bringen Schaffelle und Ziegenmilch, und die Weisen aus dem Morgenland tragen zu allem Überfluss noch Weihrauch, Myrrhe und Gold heran.

Sieht man von diesen Luxusgegenständen einmal ab, so geht es in der Weihnachtsgeschichte, wie sie Lukas erzählt, in erster Linie darum, die Ärmlichkeit der Umstände darzustellen. Darin liegt eine „Umwertung aller Werte“, deren Radikalität wir nur deshalb nicht mehr empfinden, weil wir die ganze Geschichte schon so lange kennen. Die Krippe scheint uns ein angemessenes Bett für einen Gottessohn zu sein, weil wir uns nicht vorstellen, dass sie sich buchstäblich in einem Viehstall befindet und den Tieren zum Fraße dient.

Kommt es sonst auch immer und überall auf Status und Besitz an, so sind die Anfänge des Christentums in der untersten sozialen Schicht unter den schlechtesten Bedingungen angesiedelt. Diejenigen, die die Frohe Botschaft als Erste hörten, waren Hirten, und das heißt: diejenigen, die sozial am niedrigsten stehen. Hier, in der Weihnachtsgeschichte, liegt eine der Wurzeln der Menschenrechtsidee. Und insbesondere der Idee der Gleichheit.

Man sieht: Weihnachten hat was – auch wenn man nicht daran glaubt, dass die Welt dadurch erlöst wurde, dass sich der Gottessohn für sie verloren gab, sondern weiterhin der Erlösung bedarf. SIBYLLE TÖNNIES