Frühsport, Frühstück, Zeitunglesen

Kasernenleben in vier Zimmern: Der pensionierte Militärflieger Rodnikow lebt noch in der alten Zeit

Sergej Rodnikows Tag beginnt jeden Morgen um dieselbe Zeit. Sechs Uhr Frühsport, sieben Uhr ein deftiges Frühstück mit Buchweizengrütze und Speck, halb acht Morgentoilette. Eisern, diszipliniert, gnadenlos. Abweichungen vom Fahrplan lässt Rodnikow nur im Krankheitsfall durchgehen. Und auch der tritt erst ein, wenn er sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Danach beginnt die ausgedehnte Zeitungslektüre. Im Lehnstuhl. Mit der Sowjetskaja Rossija, dem Hausblatt der Kommunisten. Sie dient als Blaupause: Was andere Blätter schreiben, meint Rodnikow, sei nicht im Interesse Russlands.

Der 62-jährige pensionierte Militär ist freundlich und korrekt, er will sich nicht fotografieren lassen. Dreißig Jahre hat er als ranghoher Pilot in der Armee gedient und eine typisch sowjetische Laufbahn absolviert. Nach dem Studium auf einer Militärakademie zog er von einer Garnison in die nächste, die Familie, Frau und zwei Kinder, immer im Schlepptau. Die meisten Jahre verbrachten sie im kasachischen Semipalatinsk, jener Militärbasis, die in den 50er-Jahren zu traurigem Ruhm erlangte. In der Nähe bewohnter Ortschaften zündeten die Sowjets die ersten überirdischen Atombomben, ohne die Bevölkerung vor den Gefahren zu warnen. Was der Ideologie diente, konnte nicht schädlich sein.

Rodnikow lebt noch in der alten Welt, besser, er schwebt über der Vergangenheit: „Erst kommt das Fliegen, ja das Fliegen kommt zuerst, und die Mädchen, ja die Mädchen – ihnen verfällt danach erst eines Piloten Herz“, stimmt Rodnikow ein Lied aus einem sowjetischen Fliegerfilm der 30er-Jahre an.

Mit Frau Nadeschda und dem jüngeren Sohn Alexej wohnt er am südlichen Stadtrand Moskaus in einer Vierzimmerwohnung. Die zierliche Nadeschada zieht es auch im Winter in die Loggia, die sie verglasen ließ, um noch etwas Platz zu gewinnen. „Manchmal sitze ich hier stundenlang und schaue auf die Schneefelder“, sagt sie leise. Vor ihrem Fenster wird ein neuer Bau hochgezogen. Als die Rodnikows vor sechs Jahren hier rauszogen, waren rundum nur Felder und Wiesen. Langsam verschwindet der Horizont. „Weniger Himmel – weniger Wind und Kälte“, tröstet sich Nadeschda. Allem Übel noch Erfreuliches abzugewinnen ist eine beneidenswerte Eigenschaft und das Fundament der russischen Leidensfähigkeit.

Nadeschda sieht ihren Mann sehr selten. Morgens hört sie ihn beim Sport stöhnen. Sie lässt ihn machen und verlässt das Haus kurz vor sieben, nachdem sie für Sohn Alexej das Frühstück zubereitet hat. Nadeschda ist Ende 50 und hat in den letzten zehn Jahren in vielen Jobs gearbeitet: mal als Buchhalterin, als Sekretärin in einer Militärverwaltung, danach in einer Bank und gelegentlich als Kindermädchen. Es fällt ihr zunehmend schwerer, die anderthalb Stunden bis ins Zentrum mit Bus und U-Bahn zurückzulegen. „Dennoch“, sagt sie, „fühle ich mich wohler als früher. Ich habe nicht gerne in Garnisonen gelebt.“ Sie seien dort isoliert gewesen und die „Welt draußen“, die Leute in Zivil, hätte den Frauen der Militärs Neid und Ablehnung entgegengebracht. „Die winzigen Privilegien waren das nicht wert.“

Nadeschda taut langsam auf, sie kann sogar über das absurde Verhältnis zu ihrem Mann lachen. „Kafkaesk, nicht wahr?“ Seit einigen Jahren verkrieche er sich in seinem Zimmer und simuliere Kasernenleben. Früher waren die Mädchen scharf darauf, einen Offizier zu heiraten. „Aber das Image einer glücklichen, erfolgreichen Offiziersfrau traf auf mich nie zu“, glaubt Nadeschda. Sergej war um die fünfzig, als er aus dem aktiven Dienst ausschied. Auch er hat sich in mehreren Jobs versucht. In einem Warenlager als Expedient, in der Verwaltung einer Behörde, bei einer Versicherung und und und. Nirgends hielt er es länger als ein Jahr aus. Seine Frau vermutet: „Vom Kommandeur zum Befehlsempfänger – den Rollenwechsel hat er nicht verkraftet.“

Nadeschdas Lohn hält die Familie über Wasser. An die 300 Dollar verdient sie als Sekretärin. Davon unterstützt sie auch Sohn Alexej, der an seiner Dissertation in Medizin sitzt und nur ein knappes Stipendium bezieht. Seit kurzem wohnt auch noch Alexejs Freundin Anja in der Wohnung.

Unterdessen verlässt die kleine, zerbrechliche Nadeschda jeden Morgen gegen sieben das Haus, begleitet von Lauter körperlicher Verausgabung und dem rhythmischen dumpfen Klacken der Hanteln. KLAUS-HELGE DONATH