Das Straßenbild

Die Reklamerezension. Heute: Berlin Milastraße

Werbung bedeutet Wandlung. Als Spiegel der Öffentlichkeit verändert sie mit ihr immer wieder das Gesicht. Fortwährende Veränderung tut Not in einer Gesellschaft, der so langweilig ist, dass sie sich selbst und ihre Moden ständig neu kreieren muss. Gefinkelte Strategen erfinden neue Bedürfnisse und gleich dazu eine neue Anmache.

Doch eine Werbung ist den Kalamitäten der Zeit nie unterworfen. Älter als Sodom und Gomorrha, war sie mitverantwortlich für deren Untergang, weil Gott dieser Werbestrategie nichts abgewinnen konnte. In Schutt und Asche legte er die Städte, doch das Symbol hielt sich weiter. Wahrhaft olympisch leuchtet es (den werbenden) Freiern kontinuierlich ihren Weg. Eine Flamme im Werbedschungel: das Rotlicht.

Wo früher noch die Inhalte schockiert haben, übernimmt heute die Vermarktung die Skandalproduktion. Oder versucht es zumindest. Was beeindruckt denn heute, was schockt noch? Die Reizüberflutung lässt kalt. Umso vernünftiger scheint ein Boykott der gängigen Aufdringlichkeit. In angenehmer Opposition zum Zeitgeist steht ein kleines Puff in der Milastrasse. Dezenz und Schlichtheit locken spendierfreudige Kunden. Nichts brüllt einen an, nichts sticht ins Auge. Keine Geschmacklosigkeiten. Man wird in Ruhe gelassen. Minimalistische Perfektion. Eine nackte rote Glühbirne leuchtet dort im Schaufenster.

Die ursprünglichste Funktion der Werbung kommt hier zum Vorschein: das Werben um den potenziellen Bettgenossen. Die Vorteile der indirekten Vermarktung gegenüber einer expliziten Darstellung liegen auf der Hand: Geringeres Provokationspotenzial ermöglicht geflissentliches Ignorieren.

Im antiken Athen griff man zu weitaus radikaleren Mitteln. Riesige Penisse, quasi als Zunftzeichen, zierten die Hurenquartiere. Aber die waren damals staatliche Einrichtungen, um die Stadtfinanzen aufzubessern; und die Zuhälter Beamte. Volkseigene Institutionen leisten sich eben aggressive Werbekonzepte. Auch reine Rotlichtviertel heute. Da verirrt sich ohnehin niemand hin, der sich empören könnte. Anders ist es in einem Wohngebiet. Da muss der Spagat zwischen unanstößiger Zurückhaltung und anstößiger Anmache gemeistert werden. In dem Puff in der Milastraße wählt man den altbewährt dezenten Weg in seiner genügsamsten Ausprägung. Das Preis-Leistungs-Verhältnis dieses Werbemittels dürfte nicht zu toppen sein: mit minimalem Aufwand maximale Effizienz.ANNA SCHAFFNER