Wie geht böse

Über die kleine Niedertracht

von CORNELIA KURTH

Wie das Schöne in der Kunst besonders berührt, wenn es alle Zweckmäßigkeit hinter sich gelassen hat, so zeigt das Böse erst dann sein wahres Gesicht, wenn es nicht durch Rachegelüste, Eifersucht, Macht- oder Gewinnstreben motiviert ist. Man muss kein sadistischer Folterknecht sein, um kleine böse Taten in seinem Leben zu entdecken, die aus keinem anderen Grund begangen wurden, als dem, böse sein zu wollen und sich am Bösen zu erfreuen.

Die nachfolgenden Bekenntnisse haben (fast alle) gemein, dass sie den Befragten auf Anhieb eingefallen sind als autobiografische Beispiele für „das Böse“, das in uns allen steckt. Es sind Miniaturen des großen Bösen, das wir immer nicht begreifen können.

Einmal habe ich Marlies in ihrem Atelier eingeschlossen, ich glaube jedenfalls, dass es Marlies war, aber vielleicht war es auch ein ganz unbekanntes Opfer, ich konnte keine Zeit damit verschwenden zu prüfen, wen ich da im Atelier werkeln hörte, denn voller Freude hatte ich entdeckt, dass der Schlüssel von außen in der angelehnten Tür steckte, und ich wollte keinesfalls riskieren, dass irgendetwas meine Tat verhindern würde. Leise also schloss ich die Tür zum Atelier, drehte den Schlüssel um und ging zügig weiter. Das ist immer meine Hoffnung, wenn ich Bürogebäude betrete, dass in einer der Türen ein Schlüssel von außen stecken möge und drinnen ein Mensch wäre, den ich einschließen kann. Ich habe kein schlechtes Gewissen dabei, sondern lache mir ins Fäustchen bei der Vorstellung, wie jemand an der Klinke rüttelt, erst leise und dann lauter um Hilfe ruft und so gar nicht begreift, wie ihm geschehen ist.

Peter, 50, Werbetexter

Natürlich könnte ich allerlei Situationen aufzählen, in denen ich unmoralisch gehandelt habe, aber „böse“ war ich vielleicht nur in dieser einen Geschichte, als ich das letzte Frühstücksei aß, anstatt es meinem Freund Klaus zu geben. Klaus war der „kleine Verrückte“ aus meiner Heimatstadt, er lebte normalerweise in der Psychiatrie und besuchte mich manchmal in meiner WG, aufgedreht und verlegen zugleich als vierzigjähriger Outcast unter lauter Studenten. Zwei Tage zuvor war ihm seine Brücke im ohnehin lädierten Gebiss herausgebrochen, er hatte fast keinen Zahn mehr im Oberkiefer und konnte überhaupt nicht kauen. Ich sah wohl, wie er den Frühstückstisch nach etwas für ihn Essbarem absuchte, sah mit seinen Augen das Ökoschwarzbrot und den Käsekanten, als einer meiner Mitbewohner sagte: Es ist leider nur noch ein Ei da . . .

„Lecker! Heute habe ich richtig Appetit auf ein Ei“, sagte ich, nahm es, aß es und erst beim letzten Bissen sagte ich: „O wie dumm, jetzt hast du ja gar nichts, was du essen kannst . . .“

Ich weiß nicht, warum ich ihm das Ei nicht überlassen habe, dem guten Klaus, der schon am Abend zuvor nichts Rechtes gegessen hatte, weil ihm das Zahnfleisch so weh tat. In Anbetracht aller möglichen Übeltaten, die ich in meinem Leben begangen habe, empfinde ich eine wirkliche Schuld nur bei dieser einen. Corinna, 41, Lehrerin

Ich habe mal eine Zeitlang den Roomservice in einem großen Hotel gemacht und in dieser Zeit dafür gesorgt, dass so mancher Gast wahrscheinlich ziemlich großen Ärger gekriegt hat, wenn er wieder nach Hause kam. Wenn ich in einem Zimmer einen besonders heißen Damenschlüpfer herumliegen sah, steckte ich ihn ein, um ihn dann in den Koffer eines männlichen Gastes zu schmuggeln. Oder ich versteckte eine angebrochene Schachtel Kondome in irgendeinem Gepäckstück oder ein angeschmuddeltes Pornoheft, kurz, alles Dinge, die einer arglosen Ehefrau übel aufstoßen würden, wenn ihr heimkehrender Mann den Koffer abstellt und sagt: Ach, Schatz, ich habe da eine ganze Menge schmutziger Wäsche . . .

Mein Freund übrigens, der war Koch, und einmal hat er mir bewiesen, dass es tatsächlich stimmt, womit er manchmal prahlte: Er öffnete seinen Hosenschlitz vor dem großen Gulaschtopf in der Küche und pinkelte hinein. Und keiner von den Gästen hat sich beschwert.

Thomas, 35, Maler

Eigentlich hatte ich nichts gegen Jasmina, sie ging in meine Paralellklasse und war mir vollkommen gleichgültig. Auch mit Petra war ich nicht wirklich befreundet, wir teilten uns nur zufällig ein Zelt auf dem jährlichen Schülertreffen mit Fußballturnier und Zeltlager. Das Fußballspiel der Jungs war langweilig, wir kamen nicht richtig in Schwung, und so erinnerte sich Petra an ihren Streit mit Jasmina und dass sie ihr noch etwas heimzuzahlen hatte. Noch ziellos schlenderten wir zu Jasminas Zelt, überlegten, ob wir die Heringe herausreißen oder ihren Schlafsack verstecken sollten, da sagte Petra: „Ich muss mal . . .“, und ich sagte: „Pinkel doch ins Zelt.“ Petra grinste, überlegte einen Moment und sagte dann: „Allein trau ich mich nicht.“ Und ich sagte: „Komm los, ich mach mit.“

Zuerst war es nur eine spaßige Idee, aber dann spürte ich ein komisches Kribbeln, ein gespanntes Frohlocken über etwas wirklich Fieses, was wir jetzt gleich tun würden. „Du hältst Wache!“, sagte ich zu Petra, hockte mich in in die hintere Ecke des Zeltes und pinkelte.

Der Pinkelstrom lief unter Jasminas Schlafsack. Danach nahm Petra sich die andere Zeltecke vor. Am Abend lachten wir uns schlapp, als Daniela und die andere Zeltbewohnerin ihre nassen Schlafsäcke draußen auslegten und laut herumrätselten, was da wohl ausgelaufen sein könnte. Erzählt habe ich das aber bisher noch niemandem – und mit Petra habe ich nichts mehr zu tun.

Jennifer, 19, Abiturientin

Mir macht es einen perfiden Spaß, in den Kaufhäusern an den Regalen mit den besonders teuren Süßwaren vorbeizugehen und die edle Schokoladenware mit einem beiläufigen aber kräftigen Fingerdruck einzudellen, knacks, knacks, knacks, knacks – herrlich! Bonbonieren mit Rüschen und Schleifchen, hübsch geschmückte Schokoladenostereier, in Handarbeit gegossene Weihnachtsmänner – knacks, und die kostbaren Pralinen sind auf ihren reinen Materialwert reduziert, ha! Niemand weiß, wie dieses Umglück passieren konnte, der wütende Verkäufer nicht, der nun eine Ecke für Bruchschokolade einrichten muss, und auch nicht der Käufer, der den Makel erst zu Hause feststellt oder gar nicht bemerkt, sondern ein eindrucksvolles Geschenk machen will, und dann packt es der Beschenkte aus und denkt: „Aha, ein Sonderangebot.“

Uli, 40, Inhaber einer Lederwerkstatt

Als Kind hatte ich eine allerbeste Freundin, ein Nachbarmädchen, das ich wirklich sehr mochte und mit der ich fast jeden Tag zusammen war. An diesem speziellen Nachmittag, an dem wir in unserem Garten spielten, gab es nicht den geringsten Grund, ihr etwas Böses anzutun, und doch habe ich mit Bedacht böse gehandelt. Wir spielten „Figuren schleudern“, ich hielt meine Freundin ganz nach der Spielregel an beiden Händen, und wir drehten uns wild im Kreis. Während wir uns schneller und schneller drehten, überlegte ich, an welcher Stelle ich sie loslassen musste, damit sie genau in den Gartenzaun kracht. Dann ließ ich sie los, und sie krachte tatsächlich genau in den Zaun.

Drei Tage wollte sie mich nicht sehen, und ich konnte mich noch nicht mal richtig entschuldigen. Ich hatte es ja auch mit voller Absicht gemacht – und das ahnte sie auch. Noch heute muss ich verschämt auflachen, wenn ich daran denke, wie sie in einem schönen Bogen durch die Luft flog, in den Zaun.

Daniel, 39, Redakteur

Es war das jährliche große Fest, das meine Eltern für die bürgerliche Gesellschaft gaben, der Tisch war wunderbar gedeckt mit dem besten weißen Tischtuch und dem Tafelgeschirr für feierliche Angelegenheiten.

Ich war allein im Zimmer und huschte um den Tisch. Bei jedem Gedeck bleibe ich stehen, nehme Löffel für Löffel in den Mund und ziehe ihn sorgsam durch den Mund, und ab und zu nehme ich ein Portion Blaubeerkompott in den Mund. Einen Augenblick noch stehe ich da und mustere mein Werk.

Der Tisch sieht für ein prüfendes Auge nicht mehr ganz so schön aus wie vordem, alle Löffel tragen bläuliche und schwärzliche Spuren. Ich habe das Gefühl, ich müsste noch ein Übriges tun: Ich bücke mich und schneuze die Nase in einer Ecke des Tischtuches. Dasselbe wiederhole ich an den anderen drei Ecken. Dann verschwinde ich lautlos . . .

Fiete, Schwester von Hans Fallada

CORNELIA KURTH, 41, lebt als freie Autorin im niedersächsischen Rinteln. Sie schreibt regelmäßig für das taz.mag