Wie geht gemütlich

Über Kauf- und andere Regungen an einer Konzertkasse

von REINHARD KRAUSE

Na, dann kommen Sie mal mit rein. Viel Platz ist in unserer Konzertkasse ja nicht gerade, wie Sie sehen. Vier mal vier Meter. Eine Hälfte für uns Angestellte, die andere Hälfte für die Kunden. Sie können sich ja vorstellen, wie eng das hier wird, wenn wir zu dritt arbeiten. Dann stehen zwei am Tresen und einer am Schalter zur Straße raus. Da quetscht sich einer am anderen längs. Körpergeruch sollte man da nicht haben . . . Hinzu kommt, dass es für die unterschiedlichen Karten zwei verschiedene Computer gibt. Man muss also ständig wechseln und tritt sich gegenseitig auf die Füße. Und dann gibt’s noch die beiden Telefone. Wenn die auch noch klingeln – und das tun sie in Stoßzeiten ohne Unterbrechung – dann Gute Nacht.

Da hilft nur noch, den Hörer daneben zu legen und einen Kunden nach dem anderen zu verarzten. Immer ruhig weg, sonst kommt nur Schreierei dabei heraus. Ich meine, ich höre ja notfalls das Klingeln gar nicht mehr, aber die Kunden werden ganz nervös davon, und dann sagen manche: „Gehen Sie doch ruhig ran. Ich hab’ Zeit.“ Nehmen wir mal an, ich bin gerade dabei, irgendwelche Musicalkarten aufzurufen, und ich nehme „mal eben“ den Kunden am Telefon dran. Da wäre es schon ein extremer Zufall, wenn der Telefonkunde Karten für dieselbe Veranstaltung am selben Tag möchte. Dann muss ich also das Programm wechseln und hinterher für den Kunden im Laden wieder ganz von vorne anfangen. Für mich ist’s also doppelte Arbeit, und der Kunde, der vor mir steht, ärgert sich am Ende doch. Vor allem, wenn er mitkriegt, dass das Telefon gleich wieder klingelt.

Geduldig müssen Sie schon sein, wenn Sie diesen Job machen. Sonst laufen hier alle Amok. Früher bin ich öfter in die Oper gegangen. Da habe ich mich immer ein bisschen amüsiert, weil die Frau an der Tageskasse dauernd so angespannt war. Das war immer dieselbe, so eine strenge mit „deutscher Frisur“ und Goldrandbrille. Die wirkte immer, als ob sie sich vor jedem Kunden zusammenreißen müsste und einmal tief durchatmen, weil sie sonst platzen würde. Als Kunde stand man da in einer ewig langen Schlange, und wenn man endlich dran kam, war man schon ein bisschen gereizt und traf dann auf diese menschliche Zeitbombe. Einmal habe ich erlebt, wie ihr wirklich der Kragen geplatzt ist. Da hat sie der Kunde vor mir angezischt, sie solle mal zügig voranmachen, seine Mittagspause sei gleich vorbei. Da hat sie noch tiefer Luft geholt als ohnehin schon und dann hat sie ihm gesagt: „Ich stehe hier und schufte wie ein Pferd. Schneller geht’s nicht, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen!“

Damals hab ich gelacht, heute kann ich die Frau verstehen. Dabei gab es in ihrem Kartenhäuschen nicht mal ein Telefon, das sie noch zusätzlich aus dem Konzept hätte bringen können. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn das Telefongeschäft über ein Callcenter oder eine Hotline liefe. Beides gleichzeitig und parallel macht nur alle unnötig verrückt. Bei uns wählen sich die Leute die Finger wund, weil sie nicht durchkommen, und wenn sie es dann endlich geschafft haben, meinen sie, einen ampampen zu müssen. Die Leute haben einfach keine Geduld.

Ich auch nicht, nebenbei bemerkt. Oder nicht mehr. Mich nervt es inzwischen auch, wenn die Leute einem am Telefon erst einmal zwei lang zwei breit erklären, wie oft sie es schon versucht hätten durchzukommen. Damit blockieren sie selber für die Nächsten doch auch wieder nur die Leitung. Wenn Sie am Tag zweihundert Mal dasselbe hören, werden Sie ganz automatisch irgendwann geschäftsmäßig.

Man braucht hier Nerven wie Drahtseile. Das sagen alle, auch die Kollegen von anderen Konzertkassen. Das Beste ist, wenn hier Kunden vorbeikommen und uns erzählen, sie kämen jetzt nur noch zu uns, die Kollegen von der Theaterkasse XY seien ja unglaublich unfreundlich. Da könne man ja gar nicht mehr kaufen. Und wir wissen genau, dass bei den Kollegen haargenauso über uns geredet wird. Man tauscht sich ja gelegentlich mal aus.

Ich weiß auch nicht, wie der ideale Kartenverkäufer aussehen müsste – einerseits geduldig, aber auch nicht zu freundlich, denn bestimmt muss man schon auftreten, sonst zieht sich jeder Verkauf in die Länge. Prekär wird die Lage, wenn die Kunden selbst nicht wissen, was sie wollen. Und das kommt laufend vor. Gerade vor Weihnachten meinen viele, Konzertkarten seien ein gutes Geschenk. Aber ob nun Oper, Konzert, Musical – tja, da wissen sie dann auch nicht mehr weiter. Geschweige, wann ihre lieben Beschenkten denn überhaupt Zeit haben. „Es soll ja eine Überraschung sein.“ Herrje.

Da lob ich mir die „Truck Stop“-Kunden. Die sind vielleicht ein bisschen schlicht, aber die erkundigen sich, was so ein Countrykonzert kostet, überlegen kurz und kaufen dann. So einfach kann’s also auch gehen.

Natürlich gibt es auch Phasen, da ist hier gar nichts los. Aber davon haben Sie überhaupt nichts. In dem Moment, wo Sie sich einen Kaffee einschenken oder Ihr Brot auspacken, kommt garantiert jemand rein. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das haben die Kunden im Blut! Das riechen die! Sie können eine halbe Stunde in der Nase bohren und niemand kommt – aber wehe, Sie fangen an, die Zeit irgendwie sinnvoll zu nutzen. Unsere Chefin könnte ein Vermögen machen, wenn sie uns nur immer Kuchen hinstellte oder uns ermunterte, während der Arbeit mit Freunden zu telefonieren.

Die Leute sind auch häufig so kopflos und hören gar nicht zu, wenn man etwas sagt. Ganz besonders nervig ist es, wenn Telefonkunden mit Kreditkarte bezahlen wollen – und überhaupt keine Kreditkarte haben. Wir fragen ja schon immer gleich nach, ob es sich auch wirklich um eine Kreditkarte handelt und nicht etwa nur eine einfache EC-Karte, von der wir nun einmal nichts abbuchen können. Ja ja, heißt es dann, Kreditkarte. Unbedingt. Und dann sucht man die Veranstaltung raus und den Tag und die Plätze und die Preise, und dann stellt sich raus: Es ist ja doch nur eine EC-Karte, und wir können alles wieder stornieren.

Was aber nun nicht heißt, dass es mit den Kunden, die wirklich eine Kreditkarte haben, immer leichter klappt. Mein allergrößter Fall war mal eine Ärztin, die klang am Telefon schon so super gestresst. Handy, Handy, keine Zeit, keine Zeit! Wollte zwei Karten haben für „Pomp, Duck & Circumstance“ oder irgend so etwas Tumultuarisches. Klar, hab ich ihr alles rausgesucht. Und dann sag ich zu ihr: „Jetzt brauch ich nur noch Ihre Kreditkartennummer.“ Da zischt die mich an: „Na hörn Sie! Ich steh hier mitten in einer OP, da hab ich doch meine Kreditarte nicht dabei! Wie denken Sie sich das?“

Sie machen sich keinen Begriff, was man hier so an einem Tag geboten bekommt an Absurditäten. Da gibt es Sachen, auf die kommen Sie nicht mal im Traum. Einmal hatten wir einen Anruf von einer aufgeregten Frau aus dem Umland. Die hatte ein paar Tage vorher bei uns zwei Konzertkarten für ihre Schwiegereltern gekauft. Das Ganze sollte ein Geschenk sein zum Hochzeitstag oder irgend einem Familienfest. Nun herrschte aber wohl in der Handtasche der Dame ein gewisses Durcheinander, jedenfalls hatten die Karten Eselsohren bekommen. Was soll’s, werden Sie sagen, ist doch nicht schlimm, Hauptsache, man kommt rein ins Konzert. Das sah die Dame aber anders. Die hatte sich einfach ihr Bügeleisen geschnappt und wollte die Falten rausplätten. Da hatte sie die Rechnung aber ohne unser Thermopapier gemacht. In Nullkommanichts waren die Karten komplett schwarz, man konnte kein Wort mehr erkennen! Und weil sie mit so einem Desaster natürlich nicht gerechnet hatte, hatte sie sich auch nicht die Plätze gemerkt.

Schluss ist hier abends um sechs, beziehungsweise um acht, wenn eine Veranstaltung im Haus ist. Also, um acht fang ich an, den Computer runterzufahren und die Tagesumsätze zu zählen. Bis alles ausgeschaltet ist und ich das Licht ausmachen kann, sind zwanzig Minuten um. Für diese Zeit bekomme ich übrigens keinen Pfennig Geld. Und dann klopft garantiert noch jemand an die Scheibe und will „nur mal eben“ eine Auskunft von mir. Ob es für das Neujahrskonzert noch Karten gibt. Ja, Restkarten. Und wie teuer sind die? Dafür müsste ich den Rechner wieder hochfahren. Das mache ich nach Feierabend nun wirklich nicht mehr. Irgendwann will ich ja auch nach Hause.

Und wenn ich Pech habe und einen nervigen Kunden, dann heißt es: „Das ist doch nicht zuviel von Ihnen verlangt, mir so eine Auskunft zu geben. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren.“ Und ich denke dann: Haben Sie eine Ahnung! Gegen meine Chefin bin ich nämlich noch ein Lämmchen.

Meistens gehe ich dann zu Fuß nach Hause – auch wenn das eine gute halbe Stunde dauert. Ich muss die Anspannung aus dem Job erst einmal loswerden. Da hilft schnelles Gehen ganz gut. Und frische Luft. Sonst hänge ich zuhause noch unter der Decke.

REINHARD KRAUSE, Jahrgang 1961, ist taz.mag-Redakteur